Mitschrift: Ahmadiyya (Teil 1)

Zum Gespräch: Sind das Islamisten? Wer ist die Ahmadiyya Muslim Jama’at?


Religionen im Gespräch 11, 2014

Gäste:
Peter Antes, Hannover
Aisha Daud, Hannover
M. Dawood Majoka, Münster
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers

Herzlich Willkommen im Haus der Religionen zum 11. Gespräch unserer Reihe „Religionen im Gespräch“, heute Abend mit dem Thema: Sind das Islamisten? Wer ist die Ahmadiyya Muslim Jamaat?

Als die Ahmadiyya Muslim Jamaat vor etwa einem Jahrzehnt in Hannover eine Moschee bauen wollte, da passierte ihr das, was ihr immer passiert, wenn sie in Deutschland eine Moschee bauen will: Es gab riesigen Alarm in der Stadt, gewaltige Proteste, über Jahre hinweg. Viele waren verängstigt und haben gesagt: Lasst die da bloß nicht bauen! Das ist eine Gruppe, die ist antidemokratisch, antisemitisch und auch antichristlich. Das besonders Gefährliche ist: sie missionieren, sie gehen nach draußen, sie bleiben nicht für sich. Und sie sind zentral gesteuert von einer Gruppe in Pakistan, und dort sitzt einer, der das ganze Unternehmen im Griff hat. Letztlich ist das, was sie wollen, eine Art Gottesstaat oder jedenfalls doch ein islamischer Staat, mit der Scharia im Zentrum. So eine Gruppe darf in Deutschland keine Moschee bauen! 

Das war die eine Meinung. Die andere Meinung sagte: An diesen Urteilen ist manches dran. Aber zunächst einmal muss man doch sagen: Die Ahmadiyya ist eine friedliche islamische Erneuerungsbewegung, und dazu eine, die sich zur deutschen Verfassung bekannt hat. So oder ähnlich sieht es offenkundig auch das Bundesland Hessen, das im vergangenen Jahr die Ahmadiyya Muslim Jamaat als erste muslimische Gruppe überhaupt als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt hat.

Wir stellen heute die Frage: Ja, wie denn nun? Wer ist die Ahmadiyya Muslim Jamaat? Wofür steht sie? Was will sie? 

Wir haben drei Gäste hier auf dem Podium. Ich begrüße herzlich zu meiner Linken Aisha Daud. Sie sind in Pakistan geboren, als Schulkind nach Deutschland gekommen, haben hier ihr Abitur gemacht. Sie haben Medienerfahrung, haben beim Ahmadiyya-Fernsehen in Deutschland gearbeitet, unter anderem auch als Moderatorin. Kürzlich haben Sie im Internet auf Youtube ein Format gegründet, das heißt „Blickpunkt Islam“. In der Ahmadiyya-Moschee in Hannover-Stöcken fungieren Sie als Beauftragte für das interreligiöse Gespräch. Herzlich Willkommen Frau Daud.

Zu meiner Rechten begrüße ich Mohammad Dawood Majoka. Sie sind aus Münster zu uns gekommen, gebürtig in Libyen als Kind pakistanischer Eltern und seit einem viertel Jahrhundert in Deutschland. Von Beruf sind Sie Informatiker. Sie arbeiten an der Universität im Bereich der medizinischen Bildbearbeitung und sind auf dem Weg, Professor für Informatik zu werden. Über die vielen Aufgaben hinaus, die so eine Karriere mit sich bringt, sind Sie ehrenamtlich tätig im Vorstand der deutschen Ahmadiyya. Zurzeit sind Sie der Sprecher der deutschen Ahmadiyya. Herzlich Willkommen, Herr Majoka. 

Ich begrüße herzlich Peter Antes. Sie muss man in Hannover nicht vorstellen. Ich tue es trotzdem: Sie haben katholische Theologie, Orientalistik und Religionswissenschaft studiert, haben in zwei dieser Fächer promoviert und sich im dritten habilitiert, nämlich in der Religionswissenschaft. In diesem Fach sind Sie in Hannover und weit darüber hinaus wohl bekannt. Sie waren vier Jahrzehnte lang Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Leibniz-Universität. Jetzt sind Sie emeritiert. Man merkt allerdings kaum, dass das so ist, so stark sind Sie nach wie vor stark engagiert. Herzlich Willkommen Herr Antes. 

Mein Name ist Wolfgang Reinbold. Ich bin der Beauftragte für den christlich-muslimischen Dialog in der evangelischen Landeskirche Hannovers und heute Abend der Moderator.

Herr Antes, die meisten Deutschen, so meine Erfahrung, können mit dem Wort, das heute auf den Einladungen stand, nichts anfangen: „Ahmadiyya“, was ist das für eine Gruppe? Wo kommt sie her? Was bedeutet der Name? 

Antes 
Es ist richtig, dass die meisten von dieser Gruppe noch gar nichts gehört haben. Es ist eine Erneuerungsbewegung innerhalb des Islam, in Pakistan entstanden, gegründet von Mirza Ghulam Ahmad Qadiani, der 1835/36 geboren ist und bis 1908 gelebt hat. Ende der 1880er Jahre ist er durch Veröffentlichungen bekannt geworden, die eine Erneuerung des Islams zum Ziel haben. Seine Anhänger glaubten, und teilweise hat er es auch selbst gesagt, er sei der erwartete Mahdi der Muslime, der Messias der Juden, der wiedergekommene Jesus, die Wiederkunft des indischen Gottes Krishna und vielleicht sogar ein wiedergeborener Buddha. Das heißt, wir haben hier eine Bewegung vor uns, die von vornherein einladend ist für andere Religionen des indischen Subkontinents, wo sie entstanden ist.

Spannend wird die Sache dadurch, dass Mirza Ghulam Ahmad persischer Abstammung ist, aus einer Aristokratenfamilie, und dass er eine ganze Reihe von Anhängern gefunden hat, vor allen Dingen aus der Mittelschicht Indiens. Seit 1891 haben sie sich regelmäßig versammelt. Gewissermaßen punktuell zur neuen Religionsgemeinschaft wurde das Ganze durch eine Volkszählung, die die Engländer im Jahr 1901 in Indien durchführten. Bei der Zählung sollte jeder angeben, aus welcher Religion er kommt. Und da gab Mirza Ghulam Ahmad Leuten den Rat zu schreiben, sie seien „Ahmadiyya“.

Mirza Ghulam Ahmad starb 1908. Sein Nachfolger führte die Gemeinschaft relativ straff. Es gab interne Streitereien über die Frage, ob Ghulam ein Prophet ist, ein neuer Prophet oder nur ein Erneuerer innerhalb des Islams, so dass sich die Gemeinde nach dem Tode des Nachfolgers im Jahr 1914 in zwei Gruppen spaltete. Die eine wird gewöhnlich nach den Geburtsort von Ghulam Ahmad „Qadian“-Gruppe genannt, die andere ist in Lahore beheimatet.

Beide Gruppen werden dann sehr aktiv in der Mission. Es ist wichtig, in dem Zusammenhang zu sagen, dass in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die erste Moschee in Berlin eine Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde war, in Wilmersdorf …

Reinbold 
… bis heute die älteste Moschee in Deutschland …

Antes 
… ja, wenn man von Schwetzingen einmal absieht, die älteste und auch die erfolgreichste, was Konvertiten angeht. Kritisch wird die Sache in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als in Pakistan rechtsgerichtete konservative islamische Kreise dafür eintraten, die Ahmadiyya zu verbieten. Das hat sich damals zunächst noch einmal beruhigt. In den 70er Jahren aber wurde es in Pakistan mit saudischer Unterstützung noch einmal hochgekocht, mit dem Ergebnis, dass das pakistanische Parlament 1975 beschlossen hat, dass die Ahmadiyya keine Muslime sind. Seither werden sie in Pakistan diskriminiert. Gleichzeitig mit diesem Beschluss Pakistans erfolgte der Ausschluss der Ahmadiyya aus der Weltmuslimliga.

Es ist ein einmaliger Vorgang, dass innerhalb des Islams eine Gruppe exkommuniziert wird. Seit den 70er Jahren haben wir die Situation, dass die Ahmadiyya sich selbst nach wie vor für muslimisch hält, dass sie aber von der Mehrzahl der Muslime nicht akzeptiert wird. Dieser Streit ist in Deutschland wieder hochgekommen, als die türkischen Muslime, angesteckt durch das saudische Beispiel, die Frage aufwarfen, ob das jetzt Muslime sind oder nicht.

Ich will in diesem Zusammenhang noch eins hinzufügen, bezogen auf den Punkt „Fundamentalismus“, der oft mit der Ahmadiyya verbunden wird. Der Außenminister Pakistans in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, Zafrullah Khan [http://en.wikipedia.org/wiki/Muhammad_Zafarullah_Khan], war Ahmadi. Er hat sich bei den Verhandlungen über die Erklärung der Menschenrechte in der UNO massiv dafür eingesetzt, dass Religionsfreiheit und Menschenrechte etwas aus dem Islam Hervorgehendes seien, während Saudi-Arabien das strikt abgelehnt hat. In der späteren Zeit war diese Religionsfreiheit geradezu als Prinzip notwendig, als man unter der Regierung Zia-ul-Haq [http://de.wikipedia.org/wiki/Zia-ul-Haq] in Pakistan dazu überging, Moscheen anzuzünden und Ahmadis zu attackieren, als man sogar den Begriff „Moschee“ verbot und Ahmadis vorwarf, sie würden Blasphemie begehen, wenn sie etwas Positives zu Mohammed sagten. Man ging sogar so weit, dass man die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis, das in Arabisch an vielen Ahmadi-Moscheen stand, abriss und diskriminierte die Ahmadiyya so stark, dass sehr viele gezwungen waren, Pakistan zu verlassen und in Europa Asyl zu beantragen. 

Reinbold 
Herr Majoka, das merkt man auch heute noch, wenn man mit „normalen“ Muslimen spricht. Viele sagen: „Ach, die Ahmadis, das sind gar keine Muslime“. Bei Ihnen auf der Homepage und auch in vielen Publikationen steht: „Wir sind die Wiedergeburt des wahren Islams, eine Renaissance des tatsächlichen Islams“. Was ist am normalen Islam so falsch, dass es eine Wiedergeburt braucht? 

Majoka 
Es ist nicht normal. Wenn man die Geschichte der Religionen betrachtet, also nicht nur die Geschichte des Islams, sondern auch die der anderen Religionen, so sieht man, dass sie im Laufe der Zeit oft von den wahren Lehren abdriften. Im Islam hat der heilige Prophet, der Gründer des Islams, selbst vorausgesagt, dass die Muslime mit der Zeit von den wahren Lehren des Islams abdriften werden. Es gibt eine lange Prophezeiung, in der es heißt, dass es den Islam nur noch nach dem Namen geben werde und dass es den Koran nur noch nach der Schrift geben werde. Die Moscheen werden da sein, sie werden bevölkert sein, aber sie werden ohne Rechtleitung für die Menschen sein, ohne Spiritualität, und so weiter – es gibt eine lange Reihe von Merkmalen, die der Prophet vorausgesagt hat.

Wir glauben: das ist bereits passiert, dass die Muslime vom wahren Islam, so wie ihn der Prophet selbst gelehrt hat, immer weiter abgedriftet sind.

Reinbold 
Was machen die „normalen“ Muslime alles falsch? 

Majoka 
Zum Beispiel: Wenn sie Menschen aus nichtislamischen Ländern befragen oder auch viele unter den Muslimen, dann assoziieren sie mit „Islam“ zuerst und an vorderster Stelle Unfrieden, Terrorismus, Frauenunterdrückung, Rückständigkeit und Ähnliches mehr. Das sind alles Sachen, die der Prophet strikt abgelehnt hat! Das sind alles Sachen, die nach unserem Glauben, nach unserem Verständnis dem ursprünglichen Islam, so wie ihn der Prophet selbst gelehrt und gelebt hat, widersprechen! Die Betonung auf Bildung, die Betonung auf Frauen, die Betonung auf Frieden – „Islam“, das Wort an sich bedeutet Frieden – heute käme niemand im Traum darauf, Islam mit Frieden zu verbinden, eher mit Terrorismus, eher mit Gewalt, eher mit Unterdrückung, eher mit Verletzung der Menschenrechte.

Das zeigt schon an sich, dass die Muslime vom wahren Islam, vom „normalen“ Islam, wie ihn der Prophet gelehrt hat, abgedriftet sind. Die Lösung – das hat der Prophet auch gesagt, Herr Antes hat es bereits erwähnt – ist, dass ein Mahdi kommen wird, jemand, der von Gott geleitet wird, und er wird die Muslime zum richtigen Pfad zurückführen. Deshalb nennen wir uns Renaissance des Islams oder Wiedergeburt. Das heißt: nicht der Islam ist reformbedürftig, sondern die Muslime sind reformbedürftig.

Reinbold 
Das würden natürlich viele Sunniten genauso sagen: Nicht der Islam ist falsch, sondern die Menschen haben ihn falsch ausgelegt …

Majoka 
Richtig. Der Unterschied ist, dass bei uns jener Gründer der Gemeinde den Anspruch erhoben hat, dass er von Gott auserwählt worden ist, dass er von Gott die Offenbarung mitgeteilt bekommen hat, dass er der vorausgesagte Mahdi, also derjenige ist, der die Muslime rechtleiten soll. Bei den anderen Muslimen, den Sunniten, Schiiten, wer auch immer, da gibt es auch Reformbewegungen, aber die sind nicht auf den Anspruch gegründet, dass Gott diese Person oder jene Person geleitet hat, sondern sie sagen: „Wir sehen, dass da heute etwas falsch läuft, und wir wollen das reformieren“. Das ist auch gut, aber der Unterschied ist, dass wir uns auf den Mahdi berufen. 

Reinbold 
Frau Daud, Herr Majoka hat viele Punkte aufgezählt, die vor allem die Weltsicht betreffen. Meine Frage an Sie: Unterscheiden Sie sich von den „normalen“ Muslimen auch im Alltag? Wenn ich einen Nachbarn habe, und ich weiß, er ist Muslim, aber ich weiß nicht, welche Sorte: Merke ich, wenn ein Ahmadi neben mir wohnt, und, wenn ja, woran merke ich das? 

Daud 
Ja, auf jeden Fall merkt man es, dass es Ahmadi-Muslime sind, weil sie die Lehre des Islams, den richtigen Islam, im wirklichen Leben praktizieren. Egal wo ich in der Gesellschaft bin, ob ich arbeiten gehe oder in der Schule bin, in der Universität. Man bemerkt es, weil wir die Lehre des Islams praktizieren. Die Lehre des Islams basiert bei den Ahmadi-Muslimen wie bei allen anderen Muslimen auch auf dem heiligen Koran, auf der Sunna, das ist die Praxis des heiligen Propheten, und auf den Hadithen, das sind die Überlieferungen vom heiligen Propheten. Das ist die Lehre des Islams. Wir betrachten den Koran als Wort Gottes, das den Menschen führt und leitet in jeder Hinsicht, egal in welchem Bereich man ist. Der Prophet Muhammad ist eine vollkommene Verkörperung der islamischen Lehre. Für uns ist es wichtig, dass man die islamische Lehre in seinem Leben praktiziert. Und so bemerken die Menschen natürlich auch, dass wir friedliebende Menschen sind.

Reinbold 
Das würden viele Sunniten nach meiner Erfahrung wiederum genauso sagen. Hier im Saal ist ein Imam, wir können ihn nachher ja einmal fragen. Also: Ist das etwas Besonderes? 

Daud 
Ja, das ist schon etwas Besonderes, weil wir eine Reformgemeinde sind. Man merkt es auch daran, dass wir den Koran rational interpretieren. Rationale Interpretation, das bedeutet, dass die Interpretation des Korans mit der Vernunft übereinstimmt. Wir Ahmadi-Muslime sind fest davon überzeugt, dass es im Koran keinen einzigen Vers gibt, der mit der Vernunft nicht übereinstimmt. 

Reinbold 
… das steht auch auf der Homepage und in vielen Publikationen: Wissenschaft und Islam können sich nicht widersprechen?

Daud 
Nein, auf keinen Fall, weil der Koran das Wort Gottes ist und die Wissenschaft ein Werk Gottes. Es gibt zahlreiche Offenbarungen im heiligen Koran, die man in heutiger Zeit so interpretiert. Zum Beispiel ist in Sure 81,8 davon die Rede, dass die Menschen einander nahe gebracht werden. Das wird dann heutzutage auf die Telekommunikation, das Internet, die Globalisierung bezogen, die Welt ist zu einem global village geworden. Damals, als der Koran offenbart worden ist, hat man das wahrscheinlich ganz anders interpretiert. Die Wissenschaft macht ja Entwicklungen, sie stellt immer wieder neue Thesen auf, neue Theorien, sie entwickelt sich immer weiter … 

Reinbold 
Heißt das, dass Ahmadis begeisterte Anhänger der Evolutionslehre sind oder dass sie nach dem Higgs-Bosom suchen und dem, was in der Physik gerade dran ist?

Majoka
Wir glauben, wie bereits erwähnt, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen dem Werk Gottes und dem Wort Gottes. Wenn es einen scheinbaren Widerspruch gibt, ist er entweder darauf zurückzuführen, dass das Wort Gottes nicht richtig verstanden worden ist oder dass die Wissenschaft noch nicht so weit ist. Es gibt ja einen Kern von Wissenschaften, der feststeht – die Naturgesetze und so weiter und so fort – und es gibt die Randbereiche, wo man immer wieder Neues entdeckt.

Reinbold 
Ein Punkt, der für die deutsche Gesellschaft und die aktuelle Debatte um den Islam eine gewichtige Rolle spielt, ist die Frage: Wie halten Sie es denn mit den historischen Wissenschaften? Sind Sie offen für eine historische Interpretation des Korans. Er ist ja ein Buch, das seinen historischen Ort hat, im 7. Jahrhundert, in einem bestimmten kulturellen Kontext und so weiter. Sind Sie offen für eine historische Deutung des Korans? 

Majoka 
Das Wort Gottes hat zwei Aspekte. Nach unserem islamischen Verständnis ist der heilige Koran das endgültige Gesetzbuch, das bis zum jüngsten Tag seine Geltung hat. Insoweit ist es unveränderlich. Aber wenn man die Verse des Korans verstehen möchte, dann muss man auch den historischen Kontext betrachten. Das ist übrigens nichts Neues. Von Anfang der islamischen Geschichte an fragen die Korankommentare auch, warum ein bestimmter Vers erwähnt wird und in welchem Kontext er offenbart worden ist (asbab an-nuzul). Dieser historische Kontext muss bei der Auslegung immer mit betrachtet werden.

Das Wort Gottes muss also in seinem historischen Kontext verstanden werden, aber es hat seine Geltungsdauer bis zum Jüngsten Tag. Man kann nicht sagen: „Die Gesetze, die im Koran stehen, waren ausschließlich bestimmt für die Gesellschaft vor 1300 Jahren. Jetzt brauchen wir neue Gesetze, oder wir verändern diese Gesetze.“ Das geht nicht, sondern wir gehen davon aus, dass Gott allwissend ist, dass er auch das Zukünftige weiß, dass er es in seinem Buch so offenbart und niedergelegt hat, dass er alle Begebenheiten bis zum Jüngsten Tag berücksichtigt hat. Das heißt: Es gibt durchaus die Möglichkeit, dass man bestimmte Gesetze in bestimmten Situationen anders interpretiert. Die Gesetze an sich aber sind unveränderlich. 

Reinbold 
Bevor wir auf diesen Punkt zurückkommen, will ich Sie, Herr Antes, erst noch einmal fragen: Wenn die Ahmadiyya in Deutschland eine Moschee bauen will – wir erleben es gerade wieder in Leipzig, wo man blutige Schweineköpfe auf dem Moscheebauplatz auf Hölzer gespießt hat –, dann gibt es große Widerstände und oft auch antiislamische Ausfälle. Man sorgt sich vor einer fundamentalistischen Gruppe, die aggressiv missioniert, die die Verfassung abschaffen will, die letztlich einen islamischen Staat will. Ist da aus Ihrer Sicht etwas dran?

Antes 
Wenn ich richtig sehe, ist da nichts dran. Man muss unterscheiden zwischen den üblichen Protesten, die grundsätzlich bei Moscheebauten auftreten. Sie sind übrigens häufig gar nicht unmittelbar religiös begründet, sondern da gibt es Leute, die Angst haben, dass ihre Grundstücke weniger wert sind, wenn in ihrer Gegend eine Moschee gebaut wird und Ähnliches mehr. Das ist die eine Seite, eine deutsche Öffentlichkeit, die den Moscheebau generell nicht begrüßt, sondern Schwierigkeiten macht.

Auf der anderen Seite gibt es innerislamische Auseinandersetzungen gegen die Ahmadiyya, die von anderer Ordnung sind. Vieles von dem, was eben gesagt wurde, findet man auch unter den normalen Interpretationen in bestimmten Schulen des „offiziellen“ Islams. Das, was eben etwa gesagt wurde zur Auslegung des Korans und zur Modernisierung, erinnert mich in vielen Punkten an Beiträge, die in dem von mir mit herausgegebenen „Lexikon des Dialogs“ stehen. Diese Beiträge sind verfasst worden von Vertretern der islamisch-theologischen Fakultät in Ankara und ihren Kollegen in der Türkei. Das ist also nicht der entscheidende, trennende Punkt.

Wenn man fragt. „Was stört eigentlich die Muslime an der Ahmadiyya?“, dann würde ich sagen, dass zum einen politische Gründe eine Rolle spielen, die vor allen Dingen mit Pakistan und Saudi-Arabien zu tun haben. Zum anderen ist die Behauptung der Ahmadiyya, Ghulam Ahmad sei der Mahdi, für normale Muslime ein Stein des Anstoßes. Es gab zwar in der islamischen Geschichte, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, immer wieder einmal die Vorstellung, dass der Mahdi gekommen sei. Es gab Ende des 19. Jahrhunderts einen Mahdi-Aufstand im Sudan. Es gab Leute im Iran, die geglaubt haben, Khomeini sei der Mahdi. Das ist für Muslime keine prinzipiell fremde Vorstellung. Die dezidierte Behauptung allerdings, dieser Mann da sei der Mahdi gewesen, ist für viele ein Stein des Anstoßes. Sie allein hätte aber, so scheint mir, wohl nicht ausgereicht, um in Pakistan eine solche Welle gegen die Ahmadiyya auszulösen. Politische Gründe kamen hinzu, und diese Kombination führte dann in den 50er Jahren dazu, dass man die Ahmadiyya-Bewegung bekämpfte und sie aus dem Islam exkommunizierte, unterstützt von den Saudis, die in ähnlicher Weise gegen die Muslimliga vorgingen.

Majoka 
Pakistan ist im Jahr 1947 gegründet worden, davor war es Britisch-Indien. In Britisch-Indien hatten die Mullahs bzw. die Fundamentalisten einfach keine Möglichkeit, gegen die Ahmadis per Gesetz vorzugehen. Es gab Fatwas, also Rechtsgutachten, religiöse Edikte, die die Ahmadis schon damals als Ungläubige bezeichnet haben. Nur schlug sich das nicht in der Gesetzgebung nieder. Aber als 1947 Pakistan gegründet wurde, da haben diese Mullahs, Fundamentalisten, das wenige Jahre später per Gesetz durchgesetzt, im Jahr 1953 war es …   

Antes 
… das Gesetz kam erst 20 Jahre später …

Majoka 
Im Jahr 1953 gab es einen Aufstand der Fundamentalisten gegen die Regierung, und es ging genau um diese Frage. 1974 haben sie es dann geschafft.

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