Deutschtürken? Türkisch-Deutsche!

Zum Gespräch: Streit um den Islam: Brauchen wir eine christlich-jüdische Leitkultur?


Plädoyer für einen neuen Begriff in der Integrationsdebatte

von Hamza Dehne

Es passiert mir jedes Jahr, immer dann, wenn ich eine neue Klasse bekommen habe. Nach zwei oder drei Stunden kommt der Moment, an dem ein Schüler mich ganz direkt fragt: „Was sind Sie?“

Die Frage ist unbeholfen. Wonach er eigentlich fragen will, weiß der Schüler meist selbst nicht so genau. Geht es ihm um die Staatsbürgerschaft, die Herkunft, die Religion? Wie auch immer: Irgendetwas ist anders an dem neuen Mathelehrer, und das muss auf den Tisch.

Wie immer antworte ich in einem möglichst selbstverständlichen Ton: „Ich bin Deutscher.“ Mein Vorname hat sich aber schon herumgesprochen, und einige arabisch-stämmige Schüler protestieren: „Aber das kann doch gar nicht sein! Sie heißen doch Hamza mit Vornamen! Sie sind doch Araber!“

Seit sechs Jahren bin ich Lehrer für Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik an der Integrierten Gesamtschule Vahrenheide/Sahlkamp in Hannover. Der Stadtteil Vahrenheide entstand in den 50er bis 70er Jahren als erste Großwohnsiedlung Niedersachsens. Heute leben hier viele Migranten und ihre Kinder. Der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund an der Integrierten Gesamtschule ist entsprechend hoch.

Ich bin einer von ihnen, mein arabisch klingender Vorname verrät es sofort. Mein Vater stammt aus der syrischen Großstadt Aleppo. 1972 kam er nach Deutschland, um hier zu arbeiten und eine Ausbildung zu machen. 1980 wurde ich geboren. Wie mein Vater praktiziere ich die religiösen, muslimischen Riten. Freitag Mittag gehe in die Moschee, und wenn der Imam verhindert ist, springe ich auch mal für ihn ein.

Ich bin praktizierender Muslim, und ich bin Deutscher. Deutsch ist mein Pass, Deutsch ist meine Muttersprache, Hannover meine Heimat. Und doch protestieren meine Schüler jedes Jahr aufs Neue, wenn ich ihnen sage, wie ich mich verstehe. Dann erzähle ich ihnen von meinem muslimischen Vater syrischer Herkunft und von meiner christlichen Mutter deutscher Herkunft. Ich sage ihnen, dass Deutschland meine Heimat ist und dass ich mich hier zu Hause fühle. Dass ich gerne hier lebe und dass ich meinen Teil dazu beitragen möchte, dass dieses Land vorankommt.

Am Ende der Stunde fragt sich mancher Schüler mit türkischen Wurzeln, ob er vielleicht nicht nur türkisch ist, sondern womöglich auch deutsch – aber geht das gleichzeitig? Geht es, dass ein Kind türkischer Eltern sich als „deutsch“ bezeichnet, ohne dabei seine Wurzeln zu verlieren, 50 Jahre, nachdem die ersten türkischen Gastarbeiter aus Istanbul nach München kamen? Und wie könnte das gehen, dass die Mehrheitsgesellschaft Schüler mit türkischen Eltern als Deutsche sieht und nicht länger als Türken?

Viele Schüler, mit und ohne Migrationshintergrund, bleiben bis zum Ende der Stunde bei ihrem Protest: Ein Muslim mit syrischem Vater, das kann kein Deutscher sein. Jahr für Jahr merke ich: Ich habe keinen Begriff für das, was ich bin, den mir die Schüler durchgehen lassen würden. Und ich habe auch keinen Begriff, den ich meinen Schülern anbieten könnte, die sich zwar oft als „Türken“ bezeichnen, aber nur solange, wie sie nicht in der Türkei sind. Denn dort nennt man sie spöttisch „Almanci“, „Deutschländer“. In der Türkei spüren sie ganz deutlich, dass da etwas faul ist mit ihrem Türkisch-Sein. Nur in Deutschland fragt keiner nach. Da sind sie nach wie vor „Türken“ oder „Deutschtürken“, also Türken, die zwar etwas Deutsches an sich haben, aber immer noch Türken sind.

Ich erzähle meinem Kollegen im Vorstand des Vereins „Haus der Religionen Hannover“, Wolfgang Reinbold, von meinen Erfahrungen, und wir spinnen herum. Was meine Schüler und ich und die deutsche Gesellschaft mit uns dringend brauchen, ist Zweierlei: Wir brauchen eine angemessene Definition dessen, was „Deutschsein“ heute heißen könnte. Und wir brauchen Begriffe, in denen sich die Herkunftskultur der Eltern und die Heimat der „Neu-Deutschen“ verbindet.

Wir brauchen eine angemessene Definition dessen, was „Deutschsein“ heute heißen könnte, 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Dazu haben viele bereits gute Ideen formuliert, z.B. Zafer Senocak und der Verein „Typisch Deutsch e.V.“. „Typisch deutsch ist eine bunte Gemeinschaft von Menschen, in der jeder Mensch den anderen genauso respektiert wie er ist“, sagt Typisch Deutsch e.V.. Typisch deutsch ist nicht „Abendland, Heimatabend, Sauerkraut und Gipfelkreuze“, wie es Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung vor einiger Zeit einmal formuliert hat. Typisch deutsch sind Demokratie, Rechtsstaat, Grundgesetz. Auf dieser Grundlage können sich „Neu-Deutsche“ und „Alt-Deutsche“ zusammenfinden, sagt Typisch Deutsch e.V.

Wir brauchen zweitens Begriffe, in denen sich die Herkunftskultur der Eltern und die Heimat der „Neu-Deutschen“ verbinden lassen. Wir brauchen Begriffe nach dem Vorbild der Bindestrich-Identitäten, wie sie in den USA selbstverständlich sind. Dort ist man Italo-American, Dutch-American, Irish-American, und so weiter. Warum sollte das nicht auch bei uns in Deutschland möglich sein, trotz aller Unterschiede in der Migrationsgeschichte der beiden Länder? Warum sollte man nicht auch bei uns sagen können: Ich bin – ja wie soll man das nennen: Syro-Deutscher, Syrien-Deutscher, Syrisch-Deutscher?

Wir einigen uns fürs erste auf den dritten Vorschlag. Wir vereinbaren, von nun an Wendungen wie „Deutschsyrer“, „Deutscher syrischer Herkunft“, „syrisch-stämmiger Deutscher“ oder Ähnliches zu vermeiden. Ab jetzt werden wir konsequent „Syrisch-Deutscher“ sagen. Ebenso wollen wir es bei anderen Herkünften halten. Einen geborenen Türken mit deutschem Pass nennen wir von nun an konsequent „Türkisch-Deutscher“. Entsprechend sagen wir „Polnisch-Deutscher“, „Russisch-Deutscher“ und so weiter. Auf die Reaktionen sind wir gespannt.

(Mitarbeit: Wolfgang Reinbold).

Zur Person:
Hamza Dehne ist Lehrer für Mathematik und Physik an der Integrierten Gesamtschule Vahrenheide/Sahlkamp in Hannover; er ist Mitglied im Vorstand der Dr. Buhmann-Stiftung für Interreligiöse Verständigung und 2. Vorsitzender des Vereins „Haus der Religionen Hannover e.V.“