Ehre, Männlichkeit, Sexualität

Zum Gespräch: Ehre ist das wichtigste. Einwandererkinder zwischen Familie, Schule und Religion


Aus: Aladin El-Mafaalani / Ahmet Toprak, Muslimische Jugendliche in Deutschland

Der Begriff „Ehre“ (türkisch namus) klärt ursprünglich die Beziehung zwischen Mann und Frau sowie die Grenzen nach innen und außen.

Ein Mann gilt als ehrlos, wenn seine Frau, Familie oder Freundin beleidigt oder belästigt wird und er nicht extrem und empfindlich darauf reagiert. Derjenige Mann gilt als ehrenhaft, der seine Frau verteidigen kann, Stärke und Selbstbewusstsein zeigt und die äußere Sicherheit seiner Familie garantiert. Gelingt ihm das nicht, dann ist er ehrlos (namussuz).

Eine Frau, die fremdgeht, befleckt damit nicht nur die eigene Ehre, sondern auch die ihres Partners, weil der Mann nicht Mann genug war, sie davon abzuhalten. Ein ehrenhafter Mann steht zu seinem Wort („erek adam sözünü tutar“ = „ein Mann hält sein Wort“). Er muss dies klar und offen tun und darf niemals mit „vielleicht“ oder „kann sein“ ausweichen, weil diese Antworten nur von einer Frau zu erwarten sind. Darüber hinaus muss ein ehrenhafter Mann in der Lage und willens sein, zu kämpfen, wenn er dazu herausgefordert wird. Die Eigenschaften eines ehrenhaften Mannes sind Virilität, Stärke und Härte. Er muss in der Lage sein, auf jede Herausforderung und Beleidigung, die seine Ehre betrifft, zu reagieren und darf sich nicht versöhnlich zeigen. […]

Männlichkeit
Für das Verständnis der Denk- und Handlungsmuster der Heranwachsenden spielt auch der Begriff der Männlichkeit eine hervorzuhebende Rolle. […] Jungen werden zu körperlicher und geistiger Stärke, Dominanz und selbstbewusstem Auftreten, insbesondere im Hinblick auf die Übernahme von männlichen Rollenmustern, erzogen. Wenn ein Jugendlicher diese Eigenschaften nicht zeigt, wird er als Frau und Schwächling bezeichnet. Wenn ein Mann zu homosexuellen Männern Kontakt aufnimmt, wird er als unmännlich und Schande begriffen, weil er […] eine Frauenrolle übernommen hat, die sich mit der traditionellen Männerrolle nicht vereinbaren lässt. Auch freundschaftliche Beziehungen zu homosexuellen Männern werden nicht toleriert.

Jungen treten im Gegensatz zu Mädchen sehr dominant und selbstbewusst auf. Ein Junge muss in der Lage sein, zu entscheiden, was für die später gegründete Familie das „Richtige“ und „Vorteilhafte“ ist. Dies kann er unter anderem dadurch unter Beweis stellen, dass er seine Position selbstbewusst verteidigt und auf Meinungen, die von außen an ihn herangetragen werden, keine Rücksicht nimmt. Dies könnte ihm sonst als Schwäche ausgelegt werden, was als zutiefst weiblich gilt. […]

Ausgeprägte Männlichkeit, bezogen auf Solidarität und Loyalität innerhalb des Freundeskreises, und die bedingungslose Verteidigung der weiblichen Familienmitglieder werden gerade dann rigide gehandhabt, wenn die gesellschaftliche Anerkennung ausbleibt. […] Der Begriff der Ehre ist dabei zentral und überlagert alle anderen. So ist man nur als ehrhafter Mann ein „richtiger“ Mann, nur als solidarischer und loyaler Freund ein ehrhafter Mann und nur dann ein ehrhafter Mann, wenn die weiblichen Familienmitglieder verteidigt und gegebenenfalls kontrolliert werden. Bei straffälligen Jugendlichen wird immer wieder festgestellt, dass sie aufgrund ihres Ehrbegriffes zu Straftaten bereit sind.

Ehre impliziert in dieser orthodoxen Ausprägung, dass die Männer die Sexualität ihrer Freundinnen, Ehefrauen, Töchter und Schwestern kontrollieren, diese Kontrolle „erfolgreich“ ist und damit die Ehre der Familie gewahrt bleibt. Dementsprechend werden Beleidigungen der Mutter, Schwester oder Freundin sowie Andeutungen bezüglich einer homo-sexuellen Orientierung zu gereiztem, unter Umständen aggressivem Verhalten des Beleidigten sowie seiner Freunde führen. Ähnliches ist zu erwarten, wenn abfällige Äußerungen gegenüber der nationalen Herkunft oder der Religion aber auch gegenüber dieser Vorstellung von Männlichkeit gemacht würden.

(Aladin El-Mafaalani / Ahmet Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten – Denkmuster – Herausforderungen, Konrad-Adenauer-Stiftung, 2011, 80–83) (hier).

Ein Interview mit Ahmet Toprak über die Erziehung von Jungen und Mädchen in traditionellen Familien türkischer Herkunft finden Sie hier.

Ist eine Ehrkultur typisch „muslimisch“?
Scharf kritisiert wurde der Titel und der Ansatz der oben zitierten Studie von El-Mafaalani und Toprak vom Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland:

„Um es vorweg zu nehmen: Das Buch hätte aus unserer Sicht den Untertitel verdient: ‚Mit dem Daumen auf der Waagschale auf der Suche nach dem spezifisch Muslimischen“. [...]

Vergessen Sie das Wort ‚muslimisch‘ und am besten auch noch die Worte ‚traditionell-muslimisch', ‚arabisch‘ und ‚türkisch‘. Setzen Sie stattdessen ‚Kinder und Jugendliche aus benachteiligten und bildungsfernen Familien‘ ein und denken Sie sich hin und wieder einen Migrationshintergrund hinzu.“

(Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland, Stellungnahme zum Buch: ‚Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland‘ [...], 2011, 3)