Jesiden in Deutschland – Interview mit dem Oberhaupt Mîr Tahsîn Beg

Zum Gespräch: Die unbekannte Religion. Jesiden in Niedersachsen


(aus: www.lalish-dialog.de, 2013)

Lalish-Dialog: Wie wichtig ist für Sie die Bildung der Esiden und was wünschen Sie sich besonders von den esidischen Akademikern? Und auch von der Mehrheit der esidischen Gesellschaft?

Mîr: Ich wünsche mir, dass alle Esiden die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Bildung erkennen und jede Bildungsmöglichkeit in Anspruch nehmen. Wichtig ist auch, dass sie den direkten Kontakt mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft und anderen EU-Ländern, in denen sie leben, pflegen. Ich bitte hier vor allem die Esiden, die deutsche Grundordnung mit all seinen Gesetzen zu achten!

Dabei ist es mir sehr wichtig, dass sie ihre esidischen Werte und Normen ebenfalls pflegen und schützen. Die Pflege der Muttersprache spielt hierbei eine herausragende Rolle, es darf unter keinen Umständen zum Verlust der Muttersprache kommen. Die Inhalte der Religion sollen gelebt werden und Werte und Normen der esidischen Religion Beachtung finden. Die esidische Religion muss im Gesamten gehütet werden.

Die esidischen Akademiker sollten sich als Mittler zwischen der eigenen Gemeinde und der Mehrheitsgesellschaft verstehen, die für den demokratischen Dialog bei­der Gesellschaften eine Brücke bauen. Als intellektuelle Esiden sollen sie für die esidischen Interessen auftreten. Hierfür ist eine ehrliche und aufrichtige Arbeit notwendig. Einflüsse und Strömungen, die die esidische Religion gefährden, müssen durch einen Konsens gelöst werden. Dies muss immer im Interesse der esidischen Religion geschehen. Es gibt gewisse Handlungen unter den Esiden, die mir absolut nicht gefallen und die ich kritisieren muss. Unter anderem werden existenzielle Gebote missachtet. Diese Dinge kann ich nicht gutheißen.

Auch gewisse Handlungen in Deutschland, die gegen die gesetzlichen Bestimmungen sind, verurteile ich. […]

LD: Wie wichtig ist es, dass die Esiden mit einer Stimme statt mit vielen verschiedenen Organisationen und Verbänden sprechen?

Mîr: Ich wünsche mir, dass bei Ungerechtigkeiten gegenüber Esiden alle politischen und sonstige Differenzen außer Acht gelassen werden und mit einer Stimme gesprochen wird. Esiden müssen einander solidarisch sein. Wir müssen uns als eine Kraft verstehen. Wenn wir keine Einigkeit unter uns haben, wird uns noch mehr Unrecht wiederfahren.

LD: Wie wichtig ist politische Neutralität?

Mîr: Ich persönlich habe eine neutrale Meinung bezüglich der unterschiedlichen Parteien. Ich kann den Esiden nicht das Recht auf politische Beteiligung in Parteien verwehren. Jedoch muss gesagt werden, dass einige politische Strömungen und deren Vorhaben für die esidische Gesellschaft schädlich sind. Esiden können und sollten sich nicht generell gegen Parteien positionieren, ihnen drohen in diesem Fall gewisse Probleme. Jeder Eside ist frei in seiner Entscheidung, sich einer Partei anzuschließen und zu betätigen. Sie können selbst entscheiden, wo sie Mitglied werden.

LD: Besteht die Möglichkeit, dass wieder eine Frau weltliches Oberhaupt der Esiden wird?

Mîr: Von meiner Seite spricht nichts dagegen, dass eine Frau die Führung der esidischen Gesellschaft übernimmt. Ich denke jedoch unter der Beachtung der gegenwärtigen Situation, dass dies in der nächsten Zeit nicht der Fall sein wird. Die esidische Gesellschaft sollte meine Nachfolge selbst entscheiden. Meine Großmutter Meyan Xatûn war eine intelligente Frau, und auch die politischen Umstände jener Zeit machten ihre Führung möglich. […]

LD: Noch immer wird in der esidischen Gesellschaft Brautgeld in zum Teil erheblicher Höhe verlangt. Was möchten Sie den Esiden auf diesem Weg mitteilen?

Mîr: Ich betone nochmals, dass das Brautgeld ein absolutes Tabu darstellt. Wenn unbedingt auf Brautgeld bestanden wird, dann muss die Höhe einen symbolischen Wert haben. Im Irak beträgt das Brautgeld nach einem Beschluss des religiösen Rates 75 Gramm Gold. Im Irak orientieren sich die Esiden daher an rund 7.000€. […] Überhöhte Brautpreisforderungen müssen von allen Esiden verurteilt werden. Ich würde mir von allen Esiden einen symbolischen Betrag von 3.000€ wünschen. Nach meiner persönlichen Meinung sollte kein Brautgeld verlangt werden, jedoch muss ich unter den gegebenen Umständen realistisch bleiben. Leider hat mein Wort bei den Esiden aus Deutschland keine große Bedeutung, weshalb jeder es nach seinen eigenen Vorstellungen entscheidet.

LD: Wir beobachten, dass immer mehr Esiden Beziehungen mit Nicht-Esiden eingehen und außerhalb ihrer Gemeinschaft heiraten. Damit verstoßen diese gegen ein Gebot der Esiden. Viele von diesen kehren jedoch nach einer gewissen Zeit zurück. Können diese Personen weiterhin als Esiden betrachtet werden?

Mîr: Erfreut bin ich hierüber nicht. Wir möchten als Volksgruppe weiterhin existieren und hierfür sind unsere Gebote entscheidend. Wenn ein Eside, ob männlich oder weiblich, eine Ehe außerhalb der Gemeinschaft eingeht und in die esidische Gemeinschaft wieder aufgenommen werden will, dann liegt es nicht in meiner Macht, über ihn zu urteilen. […]  Richtig ist es trotzdem nicht, und es bleibt eine nach unseren Geboten falsche Handlung. Das Volk muss hierüber entscheiden. Das Esidentum bleibt das Esidentum, man kann und darf es nicht nach seinen persönlichen Vorstellungen und Wünschen modellieren.

LD: Wir erleben oft, dass besonders männliche Esiden ihre stärkere Stellung in der Gesellschaft aus­nutzen und sich regelrecht „austoben“, während den Mädchen vieles streng untersagt wird.

Mîr: Auch dies verurteile ich. Die esidischen Gebote gelten für die Männer ebenso wie für die Frauen. Die Männer haben nicht mehr Rechte und nicht mehr Befugnisse als Frauen. Auch in der Hinsicht bin ich mit den Entwicklungen sehr unzufrieden.

LD: Eure Hoheit, welchen Wert messen sie der Anerkennung des esidischen Glaubens als Religionsgemeinschaft in Deutschland zu? Was wünschen sie sich von den zwei Dachverbänden der Esiden in Deutschland?

Mîr: In Russland, im Irak und in Georgien ist das Esidentum bereits als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt worden. Wir haben den Wunsch nach einer generellen Anerkennung auch in Brüssel und anderen europäischen Staaten geäußert. Daher wäre sehr wünschenswert, wenn das Esidentum auch in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkannt würde. Auch ein esidischer Religionsunterricht an den Schulen sollte angestrebt werden.

Mir war ein einziger und starker Dachverband in Deutschland ein ernstes Anliege, weswegen ich Gespräche mit beiden Dachverbänden (Zentralrat der Yeziden in Deutschland e.V. und Föderation Ezidischer Kurden e.V.; Anm. d. Red.) geführt habe und konkrete Schritte vereinbart wurden. Allerdings musste ich zu meiner Ernüchterung feststellen, dass dies doch ein schwierigeres Unterfangen war als zunächst angenommen. Es ist aber z.B. für die Anerkennung des Esidentums als Religionsgemeinschaft unabdingbar, einen großen gemeinsamen Dachverband zu gründen, der als Stimme aller Esiden in Deutschland wahrgenommen wird.

Ich hatte beide Vertreter der zwei Dachverbände zu Gesprächen bezüglich eines gemeinsamen Dachverbandes zu mir eingeladen. Wir beschlossen bestimmte Punkte einstimmig, die von den Verantwortlichen weiterverfolgt werden sollte. Jedoch wurden die vereinbarten Punkte von beiden Vertretern nicht umgesetzt. Manchmal bekommt man eben nicht das, was man sich wünscht. Es ist schwierig, wenn keiner der beiden Verbände bereit ist, gewisse Zugeständnisse untereinander zu machen und einen Kompromiss herbeizuführen. Beide beharren auf ihrer Meinung, die weder konstruktiv noch zielführend ist.

LD: Wie stehen Sie zu der Zwangsheirat, die vereinzelt unter Esiden noch praktiziert wird?

Mîr: Die Jugendlichen sollten ihren Eltern stets mit Respekt und großer Wertschätzung begegnen und die Person heiraten, die sie lieben. Jedoch betone ich hier ausdrücklich, dass in Fällen von Zwangsheirat die Jugendlichen das Recht haben, sich zur Wehr zu setzen und sich Unterstützung bei Beratungsstellen einzuholen sowie staatliche Institutionen um Hilfe zu bitten. Ich kann diese Art von Heirat nicht tolerieren, es ist eine Sünde. Meine Kinder und Enkel haben alle aus freier Entscheidung und Liebe geheiratet, sich selbstständig für ihren Partner entschieden. Auch wenn die Zwangsheirat zur Seltenheit geworden ist, ist diese selbst bei Einzelfällen abzulehnen. Ich kann es nicht nachvollziehen. Esidische Jugendliche sollten stets aus Liebe zueinander heiraten, einen normale Ehe führen und somit einen esidischen Haushalt gründen. Zwangsehen haben keine Aussicht auf eine langfristige und glückliche Ehe, weshalb sie zum Scheitern verurteilt ist. Es ist absolut nicht akzeptabel.

LD: Vor allem Frauen haben nach einer Scheidung Probleme, einen neuen Partner zu finden, mit Kindern ist es noch schwieriger.

Mîr: Eine esidische Frau, deren Ehe nach esidischen Geboten geschieden wurde, kann selbstverständlich wieder heiraten. Natürlich auch eine Frau mit Kindern. Sie kann ebenso weiterhin das Sorgerecht für ihre Kinder ausüben. Sie hat nicht weniger Rechte als ein Mann.

LD: Wird das Kastensystem der Esiden unter den sich verändernden Umständen weiterhin Bestand haben können?

Es ist nicht absehbar, inwiefern das Kastensystem weiterhin Bestand haben wird. Hierüber muss die esidische Gesellschaft unter Führung des religiösen Rates entscheiden. Wir können nicht in die Zukunft blicken, die Entscheidung liegt jedoch beim esidischen Volk.

LD: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Esiden?

Mîr: Ich wünsche mir und rufe hiermit alle Esiden dazu auf, die Religion ihrer Vorfahren nicht zu vernachlässigen, sie zu hüten und zu pflegen, sie mit Inhalten zu füllen und lebendig zu halten. Unsere Rituale und Bräuche sollten weiterhin praktiziert und gepflegt werden. Hierzu gehören auch unsere esidischen Werte- und Normvorstellungen. Alle Esiden sollten insbesondere die Bildung als eines der wichtigsten Faktoren für sich wahrnehmen, da gerade wir Esiden in der Vergangenheit nicht die Möglichkeit hatten, in den Genuss von Bildung zu kommen.

Die kurdische Sprache ist eines der wichtigsten Merkmale der esidischen Religion, sie sollte wie ein teurer Schatz gehütet und gelehrt werden. Überall wo die Esiden im Exil leben, sollen sie eine starke und solidarische Gemeinschaft bilden, sich zusammentun und füreinander da sein. Wir können und dürfen keine Unterschiede untereinander machen, auch dürfen sich bestimmte Personen, Personengruppen oder Organisationen nicht abspalten. Nur als Einheit können wir funktionieren und so lebendige Gemeinden bilden.

LD: In Deutschland herrscht Uneinigkeit über die richtige Schreibweise des Namens der Esiden und der esidischen Religionsgemeinschaft. Welche Schreibweise sollten die Esiden bevorzugt wählen?

Mîr: Unser Name ist das kurdische Wort „Êzîdî“, das Esidi ausgesprochen wird. [...]

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Mir Tahsin Saied Beg (*1933) ist das weltliche Oberhaupt der Jesiden und Nachfolger seines Vaters Saied Beg, der im Jahre 1944 verstarb. Das Amt des Mīr ist erblich und wird von Vater auf Sohn übertragen.