Mitschrift: Mohammed - was wissen wir über ihn? (Teil 1)

Zum Gespräch: Mohammed - was wissen wir über ihn?


Religionen im Gespräch 27, 2017

Gäste:
Prof. Dr. Mohammed Nekroumi, Erlangen
Prof. Dr. Jens Scheiner, Göttingen
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers
 

Reinbold: Herzlich Willkommen zum siebenundzwanzigsten Gespräch unserer Reihe „Religionen im Gespräch“, heute Abend mit dem Thema: Mohammed. Was wissen wir über ihn? 

Wenn man fragt, was Menschen mit dem Namen „Mohammed“ verbinden, dann bekommt man häufig eine von drei Antworten.

Für die einen ist er ein Vorbild in jeder Hinsicht, ein Mann ohne Fehl und Tadel, dem nachzufolgen die oberste Aufgabe ist.

Für andere ist er genau das Gegenteil davon: ein Kriegsführer, ein Mann, der Morde anordnet, ein Mann, der minderjährige Mädchen heiratet und insofern alles andere als ein Vorbild.

Und eine dritte Gruppe stellt häufig schon schnell die Frage, ob dieser Mann überhaupt je gelebt hat und ob er nicht vielleicht eine Erfindung seiner Anhänger ist.

Ein großes Feld ist das, und ich freue mich, dass wir heute mit zwei ausgewiesenen Experten die Frage diskutieren können: Mohammed – was wissen wir über ihn?

Ich begrüße dazu sehr herzlich Mohammed Nekroumi. Sie sind in Marokko geboren, dann über das Studium der Islamwissenschaft, Arabistik und der Islamwissenschaft nach Frankreich gekommen, in die schöne Provence nach Aix. Dort haben Sie promoviert, sind danach nach Berlin gegangen, an die Freie Universität. Und danach sind Sie in einer Art Deutschlandreise über Bonn, Münster, Berlin, Tübingen und noch einmal Berlin schließlich nach Erlangen gekommen, wo Sie heute Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg sind und dort insbesondere zuständig für Koranhermeneutik, – also die Frage: wie liest man den Koran? – und Normenlehre. Herzlich willkommen, Herr Nekroumi!

Ich begrüße sehr herzlich Jens Scheiner. Sie stammen ursprünglich aus Rumänien, aus Hermannstadt, sind dann zum Studium nach Tübingen und nach Edinburgh gegangen, wo Sie Islamwissenschaft studiert haben, Sozialgeschichte und etwas Öffentliches Recht. Sie haben in Holland promoviert, an der Universität Nijmegen. Zuvor waren auch Sie an der Freien Universität in Berlin, gleichzeitig mit Herrn Nekroumi – ohne, dass Sie einander kennen, wie es manchmal geht. Danach sind Sie für einige Jahre als Juniorprofessor an die Universität Göttingen gegangen, und seit 2016 sind Sie in Göttingen Inhaber der Professur Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Geschichte und Kulturen des Nahen Ostens“. Herzlich willkommen, Herr Scheiner. 
 

I Hat Mohammed wirklich gelebt?

Herr Nekroumi, ich beginne einmal mit der groben Frage: Mohammed – hat er wirklich gelebt? Es gibt immer einmal wieder Bücher, die das bestreiten. Auch im Internet finden sich viele Seiten, auf denen diese Frage gestellt wird. Welche Quellen haben wir eigentlich, um diese Frage seriös beantworten zu können?

Nekroumi: Zunächst müssen wir die Frage richtig verorten. Wir reden über einen Propheten. Die Frage, die wir stellen zur Persönlichkeit Mohammeds, können wir gleichzeitig stellen im Blick auf Jesus oder auf Mose. Die Form der Frage spielt eine Rolle. Wir müssen uns im Klaren sein, in welcher Form wir eine historische Frage stellen. Wir müssen wissen: was suchen wir genau?

Wenn wir rein historisch herangehen, dann hat Mohammed nach den Quellen existiert. Die Quellen aber, die wir haben, sind überwiegend islamisch. In ihrem Buch zur Geschichte des Islams sagt Gudrun Krämer: Mohammeds Geschichte kann man entweder auf der Grundlage der islamischen Quellen schreiben, oder man kann sie gar nicht schreiben.

Reinbold: Das heißt, es gibt kein neutrales Material, keine christliche oder jüdische oder sonstige externe Quellen?

Nekroumi: Es ist ein schwieriges Unterfangen, über christliche Quellen zu sprechen. Die Frage, die von vielen Islamwissenschaftlern gestellt wird, ist: Warum haben die (christlichen) Byzantiner nichts zu Muhammad gesagt? Obwohl sie eigentlich gern schrieben, sie waren ein schreibfreudiges Volk. Diese Frage hat die Islamwissenschaften sehr stark beschäftigt.

Und da haben wir leider eine sehr dünne Quellenlage, von der wir nicht ausgehen können. Auf islamischer Seite aber haben wir eine Menge Überlieferungen, eine Menge Quellen, die wir befragen können.

Die ersten Quellen entstanden bereits am Anfang des 8. Jahrhunderts. Man nennt sie as-sira, die Biografie des Propheten. Sie wurde zunächst von Ibn Ishaq geschrieben, einem berühmten Biographen des Propheten. Später wurde sie wurde von seinem Schüler Ibn Hischam rekonstruiert und auch in irgendeiner Weise rezensiert.

Parallel zu dieser schriftlichen Biographie des Propheten, die seit dem 8. Jahrhundert vorliegt, haben wir verschiedene mündlich überlieferte Erzählungen, die allerdings erst im 9. Jahrhundert christlicher Zeit niedergeschrieben worden sind. Auch sie erzählen über die Geschichte des Islams und über die Herkunft des Propheten, seine Geburt und so weiter.

Reinbold: Es handelt sich also um Material, das zum Teil erst zwei Jahrhunderte später vorliegt. Nun gibt es Leute, die sagen, dass wir die erste von Ihnen genannte Quelle, die Biografie des Ibn Ishaq, ja gar nicht als Handschrift haben und dass Ibn Hischam sich das Material womöglich ausgedacht hat. Was sagen Sie dazu?

Nekroumi: Die Sira des Ibn Ishaq gibt es als Handschrift, das hätte ich beinahe mitgebracht. Sie ist auf jeden Fall als Buch herausgegeben worden.

Scheiner: Heinrich Ferdinand Wüstenfeld aus Göttingen hat das Buch ediert, wenn ich ein wenig Eigenwerbung für meine Universität machen darf.

Das Argument geht dahin, dass die ältesten arabischen Quellen, die wir haben, etwa 150 Jahre nach dem Tod des Propheten niedergeschrieben wurden. Die Frage ist: Was ist in diesen 150 Jahren passiert? Aus der methodischen Sicht eines Historikers ist das eine ziemlich lange Lücke, die ich erklären muss, mit der ich umgehen muss.

Um auf die Frage nach dem Leben Mohammeds zurückzukommen: Bei den außerislamischen Quellen würde ich gern die syrischen Quellen noch ins Gespräch holen. Also die Quellen, die auf Syrisch-Aramäisch geschrieben wurden, nicht auf Griechisch, nicht auf Arabisch.

Auf Syrisch-Aramäisch gibt es aus dem Jahr 680, also ungefähr 50 Jahre nach Mohammeds Tod, eine Erwähnung seines Namens: MHMD. Weil diese Schriften ohne Vokale funktioniert haben, könnte man ergänzen: Mohammed bzw. MoHaMmeD.

Also: wir haben den ältesten Beleg für den Namen dieser Person aus einer syrischen Quelle, die relativ zeitnah nach seinem Tod geschrieben wurde und viel näher an seinem Tod dran ist als die arabischen Quellen. Das ist eins der stärksten Argumente, um zu sagen: Mohammed als Person hat gelebt.

Selbst ein syrischer Mönch berichtet darüber, wenn auch nur in einer Zeile. Es ist nur ganz wenig, darauf kann man keine Sira gründen, keinen Lebenslauf des Propheten. Aber wir haben einen sehr frühen Beleg, der mich darin unterstützt, zu sagen: Ja, Mohammed, den hat’s gegeben.
 

II Die mündliche Tradition

Nekroumi: Der Denkfehler, den wir heute machen bei der Reflexion über die Propheten und über die orientalischen Völker, ist, dass wir uns die Schriftlichkeit so vorstellen wie heute. Das orientalische Volk aber und speziell das arabische Volk war ein mündliches Volk. Bis zum 9. Jahrhundert war die Schriftlichkeit nicht gang und gäbe.

Vor der Zeit des Propheten gab es zum Beispiel eine rein mündliche Literatur auf der arabischen Halbinsel. Man nennt sie die präislamische Poesie. Sie wurde rein mündlich überliefert. Es war verpönt, etwas zu schreiben, und es war auch verpönt, etwas zu diktieren. Die Anschauung war: Man hat das Wissen entweder im Herzen oder gar nichts mehr.

Das war auch die Haltung der Muslime nach der Entstehung des Islams. Es war wichtig, dass man alles auswendig lernte, auch den Koran. Bis zum dritten Kalifen Uthman hat man die mündlichen Überlieferungen fortgesetzt durch eine sehr strukturierte Überlieferungswissenschaft, die aus verschiedenen Perspektiven aufgebaut ist. Diese Überlieferungen kann man nachverfolgen.

Es ist schön, dass das, was in der von Herrn Scheiner zitierten syrisch-aramäischen Quelle steht, zu dem passt, was die arabischen Quellen sagen. Die Aramäer waren überhaupt die ersten, die die Araber erwähnt haben …

Reinbold: Das heißt, Sie sind überhaupt nicht irritiert durch diese Lücke von 150 Jahren? Weil Sie sagen: Die Kultur war ohnehin mündlich. Mündliche Überlieferung ist das, was man erwarten konnte?

Nekroumi: Ich bin ein Kind aus einer mündlichen Kultur. Und ich weiß, wie wichtig es war für die muslimische Gemeinschaft, mündlich zu überliefern. Im Grunde genommen war die mündliche Überlieferung schon durch eine bestimmte Kontrolle gegangen. Das war ja nicht eine willkürliche, sozusagen, Wissenschaft. Sondern in der Hadith-Überlieferung haben bestimmte Isnad-Ketten …

Reinbold: Traditionsketten der Überlieferung.

Nekroumi: Richtig. Diese Isnad-Ketten sind eine Wissenschaftsmethode, die man sowohl im Maghreb in Nordafrika als auch im Osten findet. Und es ist erstaunlich, dass man bei diesen Ketten keine Unterschiede findet zwischen Büchern, die etwa in Samarkand oder in Buchara ganz im Osten geschrieben wurden und anderen, die aus dem Westen des Mittelmeers kommen.

Daher bin ich der Meinung: Schriftlich haben wir bis zum 9. Jahrhundert diesen einen Hinweis, der Herr Scheiner dankenswerter Weise erwähnt hat. Darüber hinaus haben wir die Aufzeichnung auf dem Felsendom in Jerusalem, auf die wir sicher noch zu sprechen kommen werden. Aber insgesamt ist festzustellen: Die islamische Kultur war eine mündliche Kultur. Man hat die Überlieferung fortgesetzt, und als man dann feststellte, dass die Vertrauensleute des Propheten nacheinander starben, hat man sich daran gemacht, alle Informationen niederzuschreiben.

Man kann das nachverfolgen. Bei den qiraat des Korans, bei den Lesarten des Korans und auch bei der Sira des Propheten. Eine reichhaltige Literatur belegt, wie wichtig die Mündlichkeit für diese Leute war.

Das gilt insbesondere für die Theologie. Der Koran war zur Rezitation gedacht, nicht zur Lektüre. Das war kein Lektürebuch, mit dem man abends im Hotel sitzt und liest. Sondern es war ein Text, der durch die Rezitation ein Gefühl der Allgegenwärtigkeit Gottes hervorruft. Und daher müssen wir uns heute nicht wundern, dass für die Schriftlichkeit etwas anderes ist als für diese Zeit. Deshalb müssen wir, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, genau überlegen, was wir suchen.
 

III Wie zuverlässig sind die ältesten schriftlichen Quellen

Reinbold: Herr Nekroumi ist also nicht irritiert von dieser langen Lücke. Wie schätzen Sie die Zuverlässigkeit der Sira ein?

Scheiner: Bevor ich bewerte, würde ich gern diese Lücke noch einmal beschreiben. Denn diese ersten 150 Jahre waren die formative Periode des Islam. Da sind grundlegende theologische Dinge entwickelt und erfunden worden. Die innermuslimischen Gruppen haben sich etabliert und gefestigt. In dieser Zeit ist ganz viel passiert zwischen Mohammeds Tod und dem, was wir dann „Islam“ nennen oder „klassischen Islam“.

Ignaz Goldziher, ein Kollege und Wissenschaftler aus dem 19. Jahrhundert, hat diese Bewegungen seinerzeit so stark gewertet, dass er gesagt hat: Nach 150 Jahren kann man nicht mehr genau wissen, was 150 Jahre vorher war. Denn diese ganzen Dynamiken, theologische, politische und soziale, sie führen zu starken Veränderungen in der Gesellschaft – es handelt sich ja um fünf Generationen! Mit diesem Skeptizismus ist Goldziher an die Quellen herangegangen und hat dann gesagt: Eigentlich ist das eine riesige Lücke. Und eigentlich können wir 150 Jahre später gar nicht mehr genau wissen, was davor war.

Ich selbst bin da ein bisschen positiver, ein bisschen quellenfreundlicher, denn ich habe in meiner Dissertation eine Methode entwickelt bzw. von meinem Doktorvater übernommen, mit deren Hilfe man diese Lücke von 150 Jahren schließen kann auf, sagen wir, 90 Jahre.

Das ist ein Textrekonstruktionsmethode. Wir schauen uns die ältesten Schriften an, die wir haben, und mithilfe der gerade erwähnten Namensketten kann man ältere Textschichten rekonstruieren. Und mit der Rekonstruktion dieser älteren Textschichten können wir die Lücke zwischen Mohammeds Tod und den ältesten mündlichen Überlieferungen schließen bis auf 60, 70 Jahre.

Das sind zwei Generationen. Und bei zwei Generationen, so sagt es die Oral-History-Forschung ­– die Forschung, die mündliche Überlieferung erforscht –, bei zwei Generationen kann man sich noch ziemlich gut erinnern. Das ist wie wenn ein Enkel heute seinen Großvater fragt: Was ist denn im Dritten Reich passiert? Wie war es denn im Zweiten Weltkrieg? Von der Großeltern- über die Elterngeneration bis zu den Enkeln bleibt das Wissen relativ konstant.

Reinbold: Es funktioniert, und es ist erstaunlicherweise ein ähnlicher Zeitraum wie derjenige, den wir auf christlicher Seite im Neuen Testament haben. Viele Evangelien sind, nach den üblichen Hypothesen, etwa 60 Jahre nach dem Tod Jesu entstanden. 

Scheiner: Ja. Das ist das Argument: Die Lücke zwischen dem Tod Mohammeds und den ältesten mündlichen rekonstruierten Texten ist so kurz, dass man sagen kann: Man hat das erzählt, da ist etwas passiert. Da war ein Mann, der hat gewirkt – politisch, theologisch, sozial –, und das hat auf die Leute einen Eindruck gemacht, besonders auf seine Anhänger natürlich, aber auch auf seine Gegner. Und das hat man weitererzählt. Aus diesem Grund bin ich relativ optimistisch, dass wir im Einzelfall Dinge aus Mohammeds Leben rekonstruieren können. 

Reinbold: Mit einem sehr aufwändigen Verfahren, wenn ich das sagen darf: Die Doktorarbeit von Herrn Scheiner beschäftigt sich mit der Eroberung von Damaskus, über die es so viele Traditionen gibt, dass manche meinen, man könne darüber im Grunde gar nichts sagen. Und Sie haben nur über diese Eroberung von Damaskus 800 Seiten geschrieben.

Scheiner: Ja, das ist richtig. Es ist ein wahnsinnig aufwändiges philologisches Verfahren, und es geht immer nur im Einzelfall. Mein Doktorvater, der diese Methode entwickelt hat, hat, glaube ich, fünf Situationen in Mohammeds Leben im Detail rekonstruiert.

Reinbold: Fünf?

Scheiner: Fünf aus 50 Jahren, sagen wir einmal. Aber von den fünf würde er sagen: Das ist so ähnlich passiert, wie es erzählt wurde. Da haben wir ein ganz festes Wissen. Man müsste jetzt das Verfahren auf alle Ereignisse im Leben Mohammeds übertragen. Ich glaube, das ist ein Forschungsauftrag für zehn Leute für 100 Jahre.

Reinbold: Das klingt nach einem großen Auftrag für die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder für eine Akademie.

Scheiner: Genau. Aber dann wüssten wir mit Sicherheit, welche Elemente der schriftlichen Quellen auf einen historischen Kern zurückgehen und welche Elemente, sagen wir, geformt wurden, in diesem Prozess.

Reinbold: Da muss ich Sie nachher noch fragen, welche Elemente das sind, diese fünf aus dem Leben Mohammeds, die wir wirklich wissen.

Zunächst, Herr Nekroumi, möchte ich zu sprechen kommen auf die Texte im Felsendom in Jerusalem, die Sie bereits erwähnt haben. Sie spielen in der Literatur und auch im Internet eine große Rolle. Es gibt Leute, die sagen: In den Inschriften im Felsendom steht zwar der Name „Mohammed“. Aber die übliche Deutung dieses Namens auf den Propheten stimmt gar nicht. In Wirklichkeit heißt das ganz etwas Anderes. Wie stehen Sie zu dieser These?

Nekroumi: Gestatten Sie, dass ich zunächst noch einmal auf das eingehe, was Herr Scheiner eben angesprochen hat. Das ist ganz wichtig.

Es gibt in der Islamwissenschaft verschiedene Methoden der Rekonstruktion. In Saarbrücken gibt es eine Gruppe um die Forscher Ohlig und Puin. Sie haben Fragmente des Korans aus dem 7. Jahrhundert in einer Moschee von Sanaa im Jemen gefunden. Das sind sehr alte Belege für den Korantext.

Die arabische Schrift dieser Texte ist sehr rudimentär. Die arabische Sprache sieht hier völlig anders aus als gewohnt. Die Buchstaben werden voneinander getrennt geschrieben wie im Aramäischen, ohne Punkte und ohne diakritische Zeichen. Das heißt, man kann diese Texte nicht wirklich lesen. Sie sind lediglich eine Gedächtnisstütze.

Reinbold: Also man muss den Text im Grunde schon vorher auswendig können, damit man weiß, was in ihm steht. Wie ein Erinnerungsblatt bei einem Gedicht, das man eigentlich kann.

Nekroumi: Richtig, ja. Diese Texte sind sehr alt, aus dem 7. Jahrhundert, man muss auch sie in Betracht ziehen. Und da haben die Philologen in den letzten Jahren dankenswerterweise eine Menge Arbeit geleistet.

 

IV Die historische und die islam-theologische Perspektive auf das Leben Mohammeds

Aus islamischer Perspektive stellt man, wie gesagt, die Existenz Mohammeds nicht in Frage, weil man sich an der Überlieferungsgeschichte orientiert. Und das, was mündlich überliefert und dann im 9. Jahrhundert niedergeschrieben wurde, gilt als Autorität. Es wurde später auch stark kontrolliert und erforscht. Nach Ibn Hischam gibt es viele bedeutende Historiker, at-Tabari  etwa im 10. Jahrhundert, die die Überlieferung der Frühzeit rekonstruiert haben.

Wichtig ist, dass man die Methode, die Herr Scheiner erwähnt hat, mit einer philologischen Methode verbindet.

Scheiner: Das ist eine philologische Methode.

Nekroumi: Ich bin Theologe. Das, was mündlich überliefert wurde, hat für mich Autorität. Ich stelle das nicht in Frage, weil ich eine andere Auffassung von der Geschichte habe. Das, was wir suchen, ist nicht die Historie im eigentlichen Sinne, als faktische Geschichte. Sondern wir erforschen die Geschichte eines Glaubens. Und die Geschichte eines Glaubens impliziert nicht nur die faktischen Daten, die geschehen sind, sondern auch Traumgesichte, wunderstiftende Ereignisse.

Ein Beispiel ist: Der Prophet ist nach den Quellen im Jahr 570 geboren. Und in diesem Jahr soll der Statthalter Äthiopiens, Abraha, versucht haben, Mekka zu erobern mit einer Elefantenarmee. Das ist eine der Geschichten, die erzählt wird. Die koranische Erzählung davon steht in der Sure „Der Elefant“ (Nr. 105). Im Koran wird erzählt, dass dieser Mann zwar versucht hat, Mekka und die Kaaba mitseiner Elefantenarmee zu erobern, dass er aber von einer Schwalbenarmee vom Himmel angegriffen wurde.

Es ist genauso wie in den Jesus-Geschichten im Neuen Testament: Eine Geschichte, die faktisch geschehen ist, wird mit einer anderen Geschichte, die mit dem Herzen zu tun hat, vermischt. Und damit haben wir es mit etwas anderem zu tun, nämlich mit einer Erzählung, die Ethik stiftet. Erzählung ist etwas anderes als Geschichte.

Nun aber stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine ethisch neutrale Geschichtserzählung gibt. Das stellt ein Problem für die Religionswissenschaft dar. Wenn wir Theologen sagen: Wir bleiben im Rahmen der Theologie und betrachten die Geschichte als eine Geschichte des Glaubens. Wir können Einiges rekonstruieren, anderes nicht, das geben wir zu. Was geschieht denn mit der Symbolkraft dieser Bilder? Die ist überhaupt nicht erforscht.

Scheiner: Das Spannende an dem Besipiel, das Sie, lieber Herr Nekroumi, gerade gebracht haben, ist, dass Sie als Zuschauer sehen, wie sich ein islam-theologischer Zugang von einem islam-wissenschaftlichen Zugang unterscheidet. Ich finde das Beispiel sehr eindrucksvoll. Wir lesen beide dieselben Bücher, und es wird sehr deutlich, wie unterschiedlich der Zugang ist – und damit die Ergebnisse.

Ich würde mich als Historiker bezeichnen und eben nach dem faktischen Wissen suchen. Ich kann natürlich eine Schwalbenarmee nicht als etwas ansehen, was tatsächlich passiert ist. Aber ich kann es sehr gut als eine religiöse Interpretation eines gläubigen Menschen identifizieren. Man sieht die unterschiedlichen Zugänge, vielleicht auch die Befruchtung der beiden Fächer in diesem Fall.

Nekroumi: Und genau diese Geschichtsschreibung fehlt für den Islam im Europa im Allgemeinen. In der christlichen Theologie hat man sich mit den historischen Fragen sehr intensiv auseinandergesetzt, etwa was die wunderstiftenden Ereignisse im Leben Jesu anbetrifft. Dass plötzlich ein blinder Mensch sieht und ein Kranker geheilt wird und andere Heilsgeschichten, das alles hat man auf seinen Symbolcharakter hin untersucht. Da gibt es eine lange Tradition im Christentum.

Im Islam ist es hierzulande anders. Wir haben eine Seite, die sehr gut entwickelt ist, nämlich die islamwissenschaftliche Fragestellung, die dankenswerterweise eine große Anstrengung auf sich nimmt, um bestimmte Fragen zu klären. Und dann haben wir eine Theologie, die noch in den Kinderschuhen steckt. Dabei wäre es für uns Gläubige im Allgemeinen wichtig zu sehen, wie bestimmte Bilder von Moses über Jesus bis Mohammed sich entwickelt haben, als Symbolbilder des Glaubens. Und das ist nicht geschehen. Das ist eine Geschichte, die neu geschrieben werden muss.

 

V Die Inschrift im Felsendom in Jerusalem

Nun aber endlich zu Ihner Frage nach dem Begriff „Mohammed“ im Felsendom in Jerusalem. Einige Forscher – unter ihnen die sogenannte Gruppe von Saarbrücken, aber nicht nur sie –, gehen davon aus, dass diese Beschriftung sich auf Jesus bezieht. Dass „Mohammed“ ein Adjektiv ist, ein Attribut von Jesus.

Scheiner: Denn „Mohammed“ heißt eigentlich „gepriesen“, „er ist gepriesen“. Es ist ein Adjektiv und hat eine Bedeutung. „Gepriesen sei X“.

Nekroumi: Richtig, ja. In den semitischen Sprachen, im Aramäischen, im Hebräischen, im Arabischen, sind viele Eigennamen abgeleitet von Verben. Die Worte haben drei sogenannte „Radikale“, drei Buchstaben, genauer Konsonanten. Daraus werden verschiedene Verbformen und Nomenformen entwickelt. Und Mohammed ist eine Form des Passiv-Partizips, das als Adjektiv dienen kann.

Man findet also in einigen Theorien die These, dass sich diese Beschriftung auf Jesus bezieht und dass der Islam nur eine christliche Sekte war. Das ist natürlich eine abwegige Theorie, auf die ich in meinen Schriften ausführlich eingegangen bin.

Das Problem ist: Philologisch ist diese Bedeutung überhaupt nicht zu belegen. Der Begriff „Mohammed“ taucht nirgendwo in der vorislamischen Poesie, die wir kennen, als Adjektiv auf. Nirgendwo.

Reinbold: Ich schaue einmal zu Herrn Scheiner.

Scheiner: Ich bin kein Spezialist für vor-islamische Dichtung, kann das aber bestätigen, soweit es meiner Kenntnis entspricht. Ich kann vielleicht hinzufügen, dass es einen Gelehrten des 10. Jahrhunderts gab, Ibn Duraid mit Namen, der versucht hat, alle Leute mit Namen „Mohammed“ vor unserem Mohammed aufzulisten, um damit zu belegen, dass es sich dabei um einen Vornamen handelt.

Nekroumi: In der vor-islamischen Dichtung der Lachmiden, das war eine arabische, zum Teil christlich geprägte Dynastie auf dem Gebiet des jetzigen Irak, da finden wir zum Beispiel einen berühmten König al-Qays, der im Jahr 323 gestorben war, also drei Jahrhunderte vor dem Islam. Er hat uns wunderbare Gedichte hinterlassen, die sogenannten Muallaqat. Das waren Gedichte, die auf der Kaaba aufgehängt waren, auf einem Markt, den die Araber jährlich für die besten Dichter in Arabien organisiert haben. Die Araber haben keine andere Redekunst außer Dichtung. Prosa kannten sie nicht, außer ein paar Diskursen, die der Politik zuzuschreiben sind. In diesen aufgehängten Gedichten findet man keinen Hinweis auf ein Adjektiv „Mohammed“.

Reinbold: Wenn das so ist, ist die Sache klar, würde ich sagen, oder so gut wie klar. Das heißt also: Ihres Erachtens ist die übliche Deutung der Inschrift im Felsendom auf einen Propheten „Mohammed“, der tatsächlich gelebt hat, nach wie vor richtig.

Nekroumi: Ja.

Scheiner: Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die bereits erwähnte syrische Quelle verweisen, die genau diesen Namen enthält. Es gibt keinen Grund, warum der Autor, ein christlicher Mönch, da ein pro-muslimische Haltung dokumentieren müsste. Also: der Mann hieß so, würde ich sagen.

 

VI Rückgriff auf das Syro-Aramäische?

Reinbold: Um noch einen letzten Schritt in diese Richtung zu gehen: Ein in Deutschland viel gelesenes Buch vertritt die These, dass der Rückgriff auf das Arabisch der vor-islamischen Poesie nicht weiterführt. Man müsse vielmehr in Richtung des Syro-Aramäischen gehen – und dann sehe man, dass vieles in der üblichen Koran-Übersetzung falsch übersetzt ist, weil es im Syrischen etwas anderes bedeutet. Das Buch ist unter dem Pseudonym „Christoph Luxenberg“ geschrieben und hat hierzulande großen Eindruck gemacht. Was sagt der Islamwissenschaftler Jens Scheiner?

Scheiner: Das wird jetzt leider sehr technisch …  

Reinbold: … wenn Ihr Lehrer in 50 Jahren fünf Ereignisse aus dem Leben des Propheten rekonstruiert hat, dann haben Sie ein bisschen Zeit …

Scheiner: Sie haben von Herrn Nekroumi gehört, dass die arabische Schrift eine Konsonantenschrift ist, die einzelne Buchstaben durch Punkte markiert. Ein „b“ ist so wie ein Zähnchen mit einem Punkt unten. Ein Zähnchen mit einem Punkt oben ist aber das „n“. Je nach dem, wie Sie die Zähnchen malen und wie Sie die Punkte setzen, ergeben sich andere Worte. Und weil es keine Vokale gibt, können Sie ein Konsonantenkonstrukt HND mit „Hund“, „Hand“ oder „Hind“ ergänzen. Das ergibt eine große Bedeutungsvielfalt.

Luxenberg ist nun mit der Voraussetzung an den Korantext herangegangen – und er hat nur den Korantext untersucht –, dass wir eigentlich in dieser arabischen Ur-Schrift eine syrische Konsonantenschrift versteckt hätten. Das heißt: durch Umpunktierung und Umvokalisierung hat er plötzlich an manchen Stellen im Koran ganz neue Bedeutungen gelesen (er hat nicht den ganzen Koran analysiert, sondern vielleicht zwanzig repräsentative Stellen umgedeutet).

Seine These ist: das Wort Koran, Qur’an – das heißt auf Arabisch eigentlich Lesung – ist ein Lehnwort aus dem Aramäischen. Es kommt vom aramäischen Wort Qeryana. Luxenberg will also den Koran als syrisches Gebetsbuch verstanden haben. So kommt er dazu, dass er den Koran umpunktiert und dann an manchen Stellen zu einem christlichen Inhalt kommt.

Die berühmteste Umdichtung, die Luxenberg vorgenommen hat, ist die, dass er den Begriff hur ayn – das heißt ein weibliches Wesen mit großen, weiten weißen Augen – in zwei Schritten umdichtet zu: weiße Weintrauben. Das heißt: der Gestorbene bekommt im Paradies keine Jungfrauen, sondern Weintrauben, wie wir es aus den üblichen Paradiesvorstellungen kennen, aus den christlichen etwa.

Wie stehe ich dazu, als Wissenschaftler? Ich finde es zum einen sehr fragwürdig, dass Luxenberg sich nur die Passagen herausgesucht hat, die ihm ins Bild passen. Die Passagen, die dann eine neue christliche Bedeutung ergeben, damit die Gesamtthese – der Koran ist eigentlich ein christliches Gebetsbuch – Bestand hat.

Zum zweiten macht er es philologisch nicht sauber. Er punktiert da um, wo es ihm passt und nur so, wie es ihm passt, und diskutiert nicht die anderen fünf Möglichkeiten der Umpunktierung, die sich auch anböten.

Mit anderen Worten: das Buch ist ein intellektuelles Meisterwerk, ein fantastisches Buch, das Luxenberg da geschrieben hat. Aber es ist so individuell und auf eine wissenschaftliche Weise nicht nachvollziehbar, dass ich ihm diese These nicht abkaufe. 

Ich folge lieber der traditionellen Erklärung, dass es syrische Begriffe im Koran gibt – das ist nicht zu leugnen –, die aber irgendwann als Lehnwörter ins Arabische übergegangen sind. Auch wir benutzen heute englische Begriffe und denken, es sind deutsche. Oder wir haben englische Worte, die schon zu deutschen Worten geworden sind. Oder wir haben scheinbar englische Worte wie „Handy“, die gar keine echten englischen Begriffe sind. So gibt es syrische Lehnwörter, die im Laufe der Jahrhunderte Einzug ins Arabische genommen haben und sich deshalb auch im Koran finden.

Letztlich ist – letzter Satz – die These von Luxenberg von der gesamten Islamwissenschaft verworfen worden. Von vielleicht ein, zwei abwegigen Geistern abgesehen, ist er mit seinen Thesen nicht durchgekommen.