Mitschrift: Wie weiter mit den Religionen? (Teil 1)

Zum Gespräch: Wie weiter mit den Religionen?


Religionen im Gespräch 9, 2013

Gäste:
Prof. Dr. Gerhard Wegner, Evangelische Kirche in Deutschland
Dr. Sadiqu Al-Mousllie, Zentralrat der Muslime
Nils Friedrichs, Universität Münster
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers

Herzlich Willkommen zum 9. Gespräch unserer Reihe „Religionen im Gespräch“, heute Abend mit dem Thema: „Wie weiter mit den Religionen?“

Wenn man sich umschaut, wie es weltweit um die Religionen steht, dann stößt man auf ein merkwürdiges Phänomen: Überall auf der Welt scheinen die Religionen zu boomen. In Europa aber und insbesondere in Deutschland nehmen sie ab. Vor einigen Monaten ist der Religionsmonitor 2013 der Bertelsmann-Stiftung erschienen, und eines seiner Ergebnisse ist: In Deutschland werden im Westen nur noch 25 % der Kinder religiös erzogen. Im Osten ist es gar nur jeder Achte.

Ein weiteres Ergebnis des Religionsmonitors, das aufhorchen lässt: Mehr als jeder zweite Deutsche sieht im Islam eine Bedrohung. Dazu passt eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2010, an der einer unserer heutigen Gäste beteiligt war. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass in Westdeutschland 58 Prozent der Befragten eine negative Haltung zu Muslimen haben und im Osten sogar 62 Prozent. In den Vergleichsländern, die man seinerzeit untersucht hat – Frankreich, Holland, Dänemark, Portugal – sind die Werte erheblich niedriger, da ist es etwa jeder Dritte, in Deutschland zwei von drei Befragten.

Das sind irritierende Ergebnisse, und es stellt sich die Frage: Hängt das irgendwie zusammen? Was ist da eigentlich los? Ist Deutschland dabei, ein Land ohne Christen zu werden? Warum ist die Stimmung gegenüber Muslimen hierzulande schlechter als in den Nachbarländern? Gibt es da einen Zusammenhang, braucht es womöglich starke Religionsgemeinschaften, starke Kirchen für ein tolerantes Miteinander?

Das sind einige der Fragen, die wir heute diskutieren wollen, und ich freue mich, dass wir drei Gäste da haben, die sich intensiv mit diesen Themen befassen. Ich begrüße zu meiner Linken Gerhard Wegner. Du bist evangelischer Theologe, wie ich auch, daher kennen wir uns. Du hast in Marburg und Nairobi studiert und bist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland. Du warst, daher kennen einige Dich hier im Haus der Religionen, der Leiter des Büros der evangelischen Kirche für die Weltausstellung EXPO 2000, danach Direktor des kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt in der hannoverschen Landeskirche. Nebenher bist du Professor für Praktische Theologie in Marburg, eines deiner Schwergebiete dort ist die Religionssoziologie. Zurzeit sitzt das Sozialwissenschaftliche Institut an einer großen Studie zur Frage „Wie geht es der Kirchengemeinde?“ Herzlich Willkommen Gerhard Wegner!

Ich begrüße herzlich Sadiqu Al-Mousllie. Sie sind in Syrien geboren, in Kuwait aufgewachsen, mit einer Dänin verheiratet und in dieser Kombination ein ganzer Deutscher, wie Ihr Sohn es zu formulieren pflegt, wie Sie es uns eben im Vorgespräch erzählt haben. Sie sind Mediziner, Zahnarzt in Braunschweig und dort Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft, die ihrerseits Mitglied im Zentralrat der Muslime in Deutschland ist. Als Vertreter des Zentralrats sind Sie heute hier, in Vertretung von Herrn Mazyek, der kurzfristig abgesagt hat. Herzlich Willkommen Herr Al-Mousllie. 

Last but not least begrüße ich herzlich Nils Friedrichs vom Institut für Religionssoziologie an der Universität Münster. Sie sind hier ganz in der Nähe in Peine geboren, haben in Braunschweig studiert, Soziologie, Psychologie und Volkswirtschaft. Dann sind Sie nach Münster gegangen zum religionssoziologischen Institut und haben an der von mir eben erwähnten Studie zur religiösen Vielfalt in Europa mitgearbeitet. Zurzeit sitzen Sie an einer Doktorarbeit zum Thema „Persönlichkeit, Religiosität und Toleranz“. Herzlich Willkommen, Herr Friedrichs.

Mein Name ist Wolfgang Reinbold. Ich bin der Beauftragte für Kirche und Islam in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und heute Abend der Moderator.

 

Religiosität nimmt ab

Gerhard Wegner, ich will einmal mit einem der Hauptergebnisse des Religionsmonitors beginnen. Man hat die Generationen gefragt, wie stark ihre religiöse Bindung ist. Das Ergebnis: Die Bindung an Religion ist bei den über 60-Jährigen stark, bei den 31–60-Jährigen weniger stark und bei den 16–31-Jährigen noch weniger stark. In Zahlen: es geht in Westdeutschland von 70 Prozent bei den über 60-Jährigen runter auf 42 Prozent, und im Osten von 32 Prozent runter auf 21 Prozent. Man hat den Eindruck: Es wird immer weniger, je jünger man wird. Stimmt dieses Ergebnis des Religionsmonitors zu den Studien, die ihr in den letzten Jahren erstellt habt? 

Wegner 
Ja, das kann ich weitgehend bestätigen. Wir haben diesen Effekt, dass mit jeder nachwachsenden Generation die kirchliche Nähe und die Religiosität insgesamt abnehmen. Das ist deutlich festzustellen. Zwar gibt es immer einmal leichte Auf- und Abwärtsbewegungen. Aber im Trend ist das so.

Das hat vor allen Dingen mit einer abnehmenden Kraft der religiösen Sozialisation in den Familien zu tun. Das kann man ganz deutlich nachweisen. Das zeigt der Religionsmonitor, und unsere eigenen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zeigen es auch. Die neueste, fünfte Untersuchung, die gerade in Arbeit ist, macht das noch einmal drastisch deutlich. Die Bedeutung der Religion in den Familien lässt nach, dadurch gibt es keine Gewöhnung an Religion mehr, und dann bleibt nicht mehr viel übrig. Das ist das Problem, das wir haben. 

Reinbold 
Herr Friedrichs, ist das ein Trend, den es nur in Deutschland gibt? Wie sieht es aus in Europa insgesamt? Weltweit boomt die Religion ja, wie ich eingangs sagte. In China etwa gibt es inzwischen mehr Christen als in Deutschland, und der Anteil der afrikanischen Christen an der weltweiten Christenheit hat sich in den letzten hundert Jahren mehr als verzehnfacht. Auch in Südamerika ist die Religion sehr stark – nur in Deutschland nicht. Gibt es eine Antwort darauf, woran das liegt? 

Friedrichs 
Es gibt eine Antwort darauf in der Religionssoziologie, oder man müsste wahrscheinlich eher sagen: Es gibt verschiedene Antworten darauf. Man muss zunächst sagen, dass es kein rein deutsches Phänomen ist. Es ist ein europäisches Phänomen. Sie finden es insbesondere in den westeuropäischen Gesellschaften.

Was sind seine Ursachen? Ich selber würde sagen: Es hängt mit vielen tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zusammen, die die Wirkmächtigkeit der Religion ausgehöhlt haben. Das sind Prozesse von Individualisierung, von Wohlstandsanhebung, vom Entstehen alternativer Weltdeutungsangebote. Sie führen dazu, dass Religion zwar nicht verschwindet, aber nur eine Wahlmöglichkeit unter vielen anderen wird.

In der Religionssoziologie nennt man das „Säkularisierung“: Die Wahrscheinlichkeit, dass man selber religiös ist, geht mit dieser Erweiterung der Optionen zurück. Ich denke, das, was Herr Wegner eben geschildert hat, der Rückgang der religiösen Sozialisation, ist eine Neben- oder Nachfolge genau dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse.  

 

„Säkularisierung“ – stimmt die alte These noch?

Reinbold 
Gerd Wegner, nun gibt es in letzter Zeit aber doch einige, die sagen: Säkularisierung? Daran hat man geglaubt vor zwanzig, dreißig Jahren. Der Freiburger Soziologe Hans Joas etwa hat im letzten Jahr ein Buch geschrieben, in dem er starke Zweifel an der These von einer „Säkularisierung“, also einer fortschreitenden Verweltlichung anmeldet [Glaube als Option, Freiburg 2012]. Man schaue sich doch nur einmal in Afrika um und in all den Ländern, in denen die Religion boomt. Wie passt das zusammen?

Wegner 
Wenn man die ganze Welt ansieht, dann ist es in der Tat schwierig, einen allgemeinen Trend festzustellen in Richtung einer Säkularisierung. Das Bild ist sehr differenziert. In einzelnen Religionen wie etwa Afrika, da brummt es, ebenso in Lateinamerika und an anderen Orten.

Aber wenn man auf Europa schaut, dann sieht man in allen westeuropäischen Ländern im Laufe der letzten zwanzig bis dreißig Jahre niedergehende Kurven, was Gottesdienstbesuch, was Kirchenmitgliedschaft, was eigene religiöse Praxis anbetrifft. In einigen Ländern sind richtige Abstürze festzustellen. Nehmen wir einmal Spanien als Beispiel, da sind die Zahlen gewaltig heruntergegangen. Ähnlich ist es in Skandinavien. In Schweden etwa gehen die Zahlen rasant herunter. Zwar gibt es auch Ausnahmen von diesem Bild, Polen zum Beispiel, da ist es noch nicht so. Aber im Ganzen ist das Bild klar.

Insofern, wenn man „Säkularisierung“ danach misst, wie oft die Leute zur Kirche gehen, wie oft sie beten, wie oft sie einen Gottesdienst besuchen, wie es steht um die klassischen Formen religiöser Partizipation, dann kommt man, was Europa anbetrifft, um die Säkularisierungsthese nicht herum.

Etwas anders ist es, wenn man danach fragt, ob es nicht neue Formen religiöser Kommunikation, religiösen Bewusstseins, religiöser Praxis gibt. Und da zeigen unsere Untersuchungen, dass andere Formen einer neuen religiösen Art entstanden sind, die etwa stark im religiösen Selbstgespräch bestehen oder die religiöse Selbsterfahrungen beinhalten und Ähnliches mehr. Das sind Formen von religiöser Kommunikation, die man allerdings kaum mehr sehen kann. Es ist eine Art unsichtbare Religion. Die These ist uralt, der Soziologe Thomas Luckmann hat schon vor fünfzig Jahren davon gesprochen. Aber es spricht einiges dafür, dass dem so ist. Also: Religion verschwindet nicht, kann auch so nicht verschwinden. Aber dass sie eine soziale Gestalt gewinnt, dass sie eine Kirche wird oder eine Moschee oder Ähnliches, das ist seltener der Fall.

Reinbold 
Und wie steht es um das Gegenbeispiel, das häufig zitiert wird, nämlich die Vereinigten Staaten, wo die Religion nach wie vor brummt – keine Säkularisierung dort?

Wegner 
Die letzten Zahlen aus Amerika zeigen, dass es auch in den USA weniger wird, allerdings langsamer als in Europa und nicht so stark. 

 

Lässt die Religiosität auch im Islam nach?

Reinbold 
Herr Al-Mousllie, wie steht es in dieser Hinsicht um den Islam? Wenn man sich die großen Meinungsumfragen ansieht, dann sagen regelmäßig 85 bis 90 Prozent der befragten Muslime, dass ihnen Religion wichtig sei. Wenn man allerdings in die Moscheen selbst hineingeht, dann hört man manchmal auch: Ach die Jugend, die wollen nicht so richtig, es ist so schwer, es kommt keiner mehr. Im Religionsmonitor sind die Muslime auch nicht diejenigen, die am häufigsten beten, sondern es sind die Katholiken. Sie gehen häufiger zur Kirche als die Muslime zur Moschee. Hat der Islam teil an diesem Prozess der Säkularisierung, von dem Herr Wegner und Herr Friedrichs gesprochen haben?

Al-Mousllie
Ich denke, es ist in der Gesellschaft der Eindruck entstanden, dass Religion nicht mehr modern ist. Man hat das Gefühl: Wenn man religiös ist, wenn man sich nach außen religiös gibt, dass man dann Kritik bzw. komische Blicke erntet. Ich meine, dass das auch daran liegt, dass Religion in der Gesellschaft eher schwach vertreten ist, auch in der oberen Schicht, bei den Vorbildern der Gesellschaft. Ich finde: Das ist das, was wir brauchen, wenn wir Religion den Menschen vorstellen wollen. Wir brauchen Vorbilder. Wir müssen deutlich machen, dass ein Arzt ein religiöser Mensch sein kann, auch ein Ingenieur kann religiös sein, und er kann das nach außen zeigen.

Ich meine auch, dass einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Religion im Allgemeinen in Deutschland und in Europa eher schwach vertreten ist, die Familienstruktur ist. Die religiöse Erziehung, die hauptverantwortlich dafür ist, dass Religion in jungen Jahren weitergegeben wird, das religiöse Gefühl, das religiöse Verständnis, all das ist leider Gottes sehr zurückgegangen in den letzten Jahrzehnten. Und wenn man erst einmal erwachsen geworden ist, dann ist es schwer, zu sagen: Jetzt bin ich auch religiös.

Für uns Muslime bedeutet Religiös-Sein nicht nur, in die Moschee zu gehen. Das ist ein Grund dafür, dass viele Muslime, viele Jugendliche auch nicht unbedingt in die Moschee gehen. Es gibt lukrativere Sachen, als in die Moschee zu gehen. Aber wenn es beispielsweise um das Freitagsgebet geht, dann sehen Sie doch viele Jugendliche in der Moschee. Es ist ein Gebot, das die Leute achten.

Letztendlich fragt sich ein Muslim: Muss ich nur in die Moschee gehen, um religiös zu sein? Nein, ich kann auch das, das und das machen. So bin ich auch religiös. Das erklärt vielleicht die Differenz, die in den Meinungsumfragen sichtbar sind – wobei ich persönlich eigentlich eher feststelle, dass sich immer mehr Jugendliche engagieren, weil sie das Verständnis der Religion besser mitbekommen. Besonders wenn da eine Gemeinschaft ist, die sich darum kümmert, die Werte weiterzugeben und das zu vermitteln. Ich lebe zwar in Deutschland in einer mehrheitlich christlichen Umgebung. Aber ich kann trotzdem meine Religion wunderschön und wunderbar leben. Das bekommen die Jugendlichen immer mehr mit.

Reinbold 
Das heißt also: Viele Muslime finden ihre individuelle Form, religiös zu sein, sie finden ihre ganz eigene Art und Weise, mit der Religion umzugehen?

Al-Mousllie
Es kommt darauf an, was ich umsetze als Muslim. Religiös zu sein, das ist nicht nur in die Moschee gehen. Sondern ich kann auch mit meinem Nachbarn gut umgehen, das ist religiös. Ich kann mit meiner Mutter gut umgehen, das ist religiös. Ich kann mit meinen nichtmuslimischen Nachbarn gut umgehen, mit meinen Patienten. Das ist alles Bestandteil dieses religiösen Verständnisses. Deswegen versteht sich ein Muslim als Religiöser, aber auch als Vollintegrierter in der Gesellschaft – und nicht als Bewohner zweier paralleler Welten. Das spielt eine große Rolle aus meiner Sicht.

Reinbold 
Also: Man kann auch religiös sein, indem man einfach im Alltag den Nächsten liebt, wie wir christlich sagen würden, indem man den Nächsten gut behandelt?

Al-Mousllie
So wie es der Prophet Mohammed sagt und wie uns das beigebracht wurde: Zu seinen Nachbarn, Freunden, Gefährten, Frauen und zur Familie gut sein. Und natürlich gibt es die fünf Säulen des Islams, die auch geachtet werden, und das Gebet ist eine der wichtigsten von ihnen. 

 

Deutschland, ein christliches Land?

Reinbold 
Herr Friedrichs, interessant im Religionsmonitor und in vielen anderen Studien finde ich Folgendes. Die Befragten sagen auf der einen Seite: Religion ist nicht mehr so wichtig. Auf der anderen Seite sagen sie: Dies ist ein christliches Land, und dieses Land muss christlich bleiben. Das sagen auch die Religionslosen. Wie geht das zusammen?

Friedrichs 
Ich glaube, dass das gar nicht so widersprüchlich ist, wie das vielleicht auf den ersten Blick scheint. In der Tat kommt der Religionsmonitor zu dem Ergebnis – und eigentlich nahezu alle anderen Untersuchungen auch –, dass sowohl das Christentum als Religionsgemeinschaft als auch die Christen als Personengruppe ein sehr hohes Ansehen in Deutschland genießen.

Nun muss man zunächst sagen: Die Frage der kulturellen Prägung durch das Christentum wird wahrscheinlich von vielen Menschen einfach als historische Tatsache verstanden. Darüber hinaus ist es aber in der Tat so, dass es Bereiche in der Gesellschaft gibt, wo die Menschen die Religion und gerade auch die Kirchen mit ihrem Engagement sehr gerne sehen. So ist es beispielsweise im sozialen Bereich. Man möchte, dass die Kirchen Schulen unterhalten, man möchte, dass die Kirchen Kindergärten unterhalten. Was man nicht möchte, ist, dass die Kirchen einem in die eigene Lebenspraxis hineinreden, dort, wo es um alltagsmoralische Vorstellungen angeht, dort, wo es um das Familienbild geht. Da möchte man die Religion heraushalten.

Das Entscheidende ist nun – und das kann man sehr klar sagen – , dass diese Wertschätzung des Christentums nicht einhergehen muss mit einer eigenen religiösen Bindung. Das muss man ganz klar unterscheiden. Viele schätzen das Christentum, selbst die Konfessionslosen, die keine Zugehörigkeit haben und trotzdem eine hohe Wertschätzung für Christen.  

Reinbold 
Gerd Wegner, ich habe in der Zeitung kürzlich ein schönes Wort gelesen in einem Interview mit einem Leipziger Pastor, Christian Wolff heißt er und arbeitet an der berühmten Thomaskirche. Er hat der ZEIT gesagt: „Stellen wir uns eine Stadt vor, in der es nichts mehr gibt, was mit Kirche zu tun, kein Kirchgebäude, keine Weihnachtsoratorien, keine Posaunenchöre, keine Kinder- und Jugendarbeit. Wer will in einer solchen Stadt leben?“ Und dann sagt er: „Wir können uns Atheismus leisten, solange es Christen gibt.“ Ist da etwas dran? Die unreligiöser werdende Gesellschaft profitiert davon, dass es noch Christen gibt, und das funktioniert genau so lange, wie das so ist?

 

Religiöse Menschen tun mehr für das Gemeinwohl

Wegner 
Das ist eine schöne Frage. Man kann deutlich nachweisen, dass die Bindung an den christlichen Glauben – aber auch an den muslimischen Glauben, an den jüdischen Glauben und so weiter – dass eine solche Bindung für die Gesellschaft einen ganz großen Nutzen hat. Es hat, wie wir Soziologen sagen, sehr positive Auswirkungen auf die Bildung von „Sozialkapital“. Das zivilgesellschaftliche Engagement in der Gesellschaft ist bei den Religiösen höher als bei den Konfessionslosen. Leute, die etwas mit Glauben zu tun haben, engagieren sich mehr, nicht nur für die Kirche, sondern insgesamt für die Gesellschaft, für die soziale Ordnung, für die Nachbarschaft und so weiter. 

Reinbold 
Die Religiösen tun mehr für das Gemeinwohl?

Wegner 
Ja, sie tun mehr. Völlig durchschlagend ist das beim Spendenverhalten. Diejenigen, die sich zu den Religiösen zählen, spenden viel mehr als die anderen. Auch was das Vertrauen anbetrifft, gibt es ganz hohe Werte. Was die Kirchen und die Religionen in dieser Beziehung leisten, ist ein Kitt für die Gesellschaft, ein integrativer Faktor, und insofern kann man dem zitierten Satz zustimmen.

Etwas anderes kommt hinzu, nämlich die symbolische Funktion, die etwa Kirchgebäude haben. Es ist hoch spannend zu sehen, wie insbesondere in Ostdeutschland Kirchbauvereine entstehen, die die Kirchen, die zu verfallen drohen, wieder aufbauen. Diese Kirchbauvereine bestehen nicht im engeren Sinne aus Christenmenschen. Sondern es ist ein zivilgesellschaftliches Engagement. Es geht darum, diese Symbole für etwas Übergreifendes, für Transzendenz in den Dörfern aufrecht zu erhalten, und dies nicht nur aus nostalgischen Gründen, sondern offensichtlich aus Hoffnungsgründen. Das erweckt nicht gleich Religiosität. Es ist ein Stück kulturelles, soziales Vermögen, das man pflegt, ein Vermögen, das kaum durch etwas anderes ersetzt werden kann. Sonst hätten wir halt leere Plätze. Aber was sind leere Plätze?

Friedrichs 
Vielleicht noch eine kleine Ergänzung. Man muss sich klar machen: Die Gruppe, die in Deutschland beständig wächst, das sind nicht die Atheisten. Wir haben keine atheistische Bewegung in Deutschland. Die Gruppe, die wächst, das sind die religiös Indifferenten, also die, die keine Beziehung mehr haben zur Religion – das zeigen auch die Mitgliedschaftsuntersuchungen, die Herr Wegner gemacht hat.

Der konsequente Atheismus ist eine Minderheitenposition in Deutschland. Im Religionsmonitor wird der Atheismus gar nicht positiv gesehen. Und auch in unserer Untersuchung von 2010 kommen wir zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Atheisten werden deutlich kritischer gesehen als die Christen.

Reinbold 
Herr Al-Mousllie, Muslime schreiben und sagen manchmal, dass die schlechte Stimmung in Deutschland in Bezug auf das Thema „Islam“ mit genau diesem Phänomen zu tun hat. Hier äußere sich, so vermuten sie, ein Unverständnis gegenüber Religion insgesamt. Man hält Religion für eine Art von gepflegtem Wahnsinn. In der Beschneidungsdebatte etwa haben sich Leute zu Wort gemeldet, die gefragt haben: Was für einen Irrsinn machen die da? Was sind das für archaische Riten aus längst vergangenen Zeiten? Der türkisch-deutsche Autor Eren Güvercin hat ein viel beachtetes Buch geschrieben über die von ihm sogenannten „Neomuslime“. Der letzte Satz dieses Buches lautet: „Die westliche Polemik gegen den Islam ist eine Polemik gegen Religion überhaupt.“ Ist da etwas dran?

Al-Mousllie
Ich teile diese Meinung nicht ganz. Sicherlich spielt der Bezug einer Gesellschaft zur Religion insgesamt eine wichtige Rolle bei der Frage, wie sie zum Islam steht. Ich denke, der Hauptgrund dafür, dass Muslime oft negativ angesehen und dargestellt werden, in den Medien und in der Gesellschaft insgesamt, ist, dass Religion und Politik vermischt werden. Man projiziert politische Fragen in die Religion hinein oder versucht, politische Fragen religiös zu erklären. So wird die Religion instrumentalisiert, manchmal wird sie leider Gottes auch zum Thema des Wahlkampfes.

Ich denke, wir als Muslime sollten diesen Zusammenhang analysieren. Ich für mich bin zu dem Schluss gekommen – und ich denke, viele Muslime werden meine Meinung teilen –, dass wir eine Zeit lang zu wenig getan haben, um den Kontakt nach außen zu pflegen, dass der Andere uns besser versteht, dass er weiß, was wir machen.

Auf der anderen Seite weiß man natürlich auch, dass so eine Sache keine Einbahnstraße ist. Sie muss auch von den Anderen gewollt werden. Ich glaube, in dieser Richtung ist in Deutschland viel passiert in letzter Zeit.

Reinbold 
Ich werde gleich noch einmal darauf zurückkommen. Vorab noch eine Frage an Gerhard Wegner zur Zukunft des Christentums in Deutschland. Ihr habt in ein paar Tagen die Jahrestagung des Sozialwissenschaftlichen Institutes, und ich habe im Programm gelesen, dass sie mit einer „zeitgemäßen Apologie“ endet, also mit einer Verteidigung des Christentums. Der Journalist Jan Roß von Der ZEIT hat ein viel diskutiertes Buch geschrieben, in dem er begründet, warum er Christ ist, warum das eine gute oder doch jedenfalls brauchbare Idee sein könnte, und warum es überhaupt gut und sinnvoll sein könnte, an Gott zu glauben [Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2. Auflage 2012].

Mich erinnert das an die Lage, in der sich das Christentum ganz am Anfang befand, als man eine kleine Gruppe war, die da irgendwo im Osten des Mittelmeeres entstanden war, und dann musste man den Griechen und Römern erst einmal erklären, a) Was sind das für Vögel? Und b) Warum könnte es vielleicht gut und nützlich sein, so etwas zu haben? Ist das die Lage, in der sich die Kirche heute schon befindet oder in der sie sich in zehn oder zwanzig Jahren befinden wird, dass sie wieder Apologie betreiben und den Leuten erklären muss: Wer sind wir? Und: Warum sind wir gut für das Gemeinwohl? Sind wir da angekommen?

Wegner 
Ich finde schon. Erklärung des Christentums ist die eine Sache. Die andere eine Aufklärung darüber, wie Religion funktioniert. Was ist überhaupt Religion? Diese Vorstellung, die du zitiert hast, dass Religion Spinnerei ist ... 

Reinbold 
In den Kreisen der Atheisten und Konfessionslosen gibt es die Religion des „fliegenden Spaghettimonsters“. Das wird gern zitiert …  

Wegner 
Genau. Wir brauchen eine fundamentale Aufklärung darüber, dass Religion nicht einfach Blödsinn ist. Sondern dass sie zu tun hat mit Selbsttranszendenz von Menschen, um Hans Joas zu zitieren, mit Ergriffenheit vom guten Leben, mit den fundamentalen Bedingungen des menschlichen Lebens. Religion kann das eigene Leben reicher machen und beleuchten. [Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004].

So eine fundamentale Apologie im Blick auf Religion, glaube ich, brauchen wir. Ich mache immer wieder die Erfahrung – übrigens selbst in Pastorenkreisen –, dass ganz fundamentale Kategorien in dieser Hinsicht nicht mehr greifen oder nicht mehr bekannt sind. Das Leben reduziert sich auf das, was man erlebt in der Welt. Aber dass die Welt übersteigbar ist und dass es da etwas geben könnte, was Gott ist und so weiter, das ist ganz schwierig zu vermitteln.

Es ist inzwischen ja so – auch das zeigen Untersuchungen –, dass selbst im normalen Alltagsgespräch zwischen Freunden oder in der Familie oder in der Kneipe Religion als Thema immer mehr gemieden wird. Selbst im persönlichen Gespräch ist es peinlich, diese Dinge einmal wirklich vertiefend zu besprechen. Dadurch verschwindet die Religion aus dem öffentlichen Diskurs. Es bleiben nur noch ein paar Feuilletons übrig, und da geht es dann oft um Terrorismus und so weiter. Deshalb: So etwas wie eine moderne Apologie, auch wenn das das falsche Wort ist, so etwas brauchen wir.

Reinbold 
Wenn ich an die Tageszeitung von heute und gestern denke, fällt mir dazu noch ein Stichwort ein. Wenn Sie die Hannoversche Allgemeine lesen, dann haben Sie mehrfach das Wort „Weisheit“ gelesen, im Zusammenhang mit dem Besuch des Dalai Lamas. Auch das wäre doch ein Stichwort, zu dem in der Bibel eine Menge steht und das man wieder einmal stark machen könnte. 

Wegner 
Natürlich. Der Dalai Lama ist in dieser Hinsicht ja eine positive Figur.