Mitschrift: Aleviten. Wer ist das denn? (Teil 2)

Zum Gespräch: Aleviten. Wer ist das denn?


Aleviten und Alawiten, die mündliche Tradition

Reinbold
Lieber Herr Kahraman, noch eine, wahrscheinlich ziemlich komplizierte Frage: In den Nachrichten ist zur Zeit viel die Rede von Syrien und von Präsident Assad, der ein Alawit ist, mit „aw“ geschrieben nicht mit „ev“ wie „Alevit“. Ist ein Alawit dasselbe wie ein Alevit?

Kahraman
Das ist nicht dasselbe. Der Begriff „Alevit“ hat sich erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt. Das ist bei den syrischen Alawiten nicht anders. Die eigentliche Bezeichnung der syrischen Alawiten ist „Nusairier“. Die Namensgebung geht zurück auf Muhammad Ibn Nusair, der im 9. Jahrhundert gelebt hat. Er hat eine Geheimlehre gegründet, die bis heute innerhalb der Gemeinschaft der Nusairier geheim weitergegeben wird. Mit den anatolischen Aleviten hat das nichts zu tun.

Die Gemeinsamkeit besteht lediglich darin, dass das osmanische Reich irgendwann diese Gruppen, die als nichtsunnitische Muslime wahrgenommen wurden, zu den Schiiten zählte, also zur Opposition, zu den iranischen Nachbarn. So wurden all diese Gruppen subsumiert unter dem Namen „Alianhänger“, obwohl sie sehr unterschiedlich sind. Die Cem-Zeremonie zum Beispiel gibt es bei den Alawiten nicht.

Lassen Sie mich noch eines nachtragen zur Frage, ob Aleviten in ihren Häusern einen Koran im Regal stehen haben. Viele Geistliche haben einen Koran, aber die meisten Aleviten haben keine heiligen Bücher zu Hause, weil sie die Lehre in erster Linie von den Geistlichen erhalten. Die Laien beschäftigen sich nicht sehr viel mit Religion, sondern sie bekommen das von den Ordensmeistern, von den Dedes und den Anas. Und unter ihnen gibt es zwei Gruppen. Die einen sagen: Natürlich gehört der Koran zu uns. Und die anderen sagen: Nein, mit dem Koran haben wir nichts tun.

Reinbold
Das heißt, die mündliche Tradition ist bis heute das Bestimmende. Man erfährt die Inhalte der Religion von den Eltern, von der Familie, im Cem-Gottesdienst?

Kahraman
Das ist das Bestimmende, genau. Wichtig sind auch die Gedichte. Ohne Dichtung und ohne Lieder kann man sich da Alevitentum nicht vorstellen. Es gibt bei der Cem-Zeremonie zwölf Dienste, die erfüllt werden müssen. Ein Dienst ist der des Saz-Spielers. Obwohl der Geistliche das Cem leitet, hat der Saz-Spieler einen viel größeren Anteil am Cem. Die religiösen Lieder und Oden, die er singt, haben immer eine Botschaft und erzählen eine Geschichte. Die Priester und Priesterinnen legen dann aus, was gesungen wird.

Die Gedichte sind von großer sprachlicher Schönheit. Ihr Inhalt ist meistens ein religiöser. Auch die alevitischen Jugendlichen kennen diese Gedichte. Es gibt in Deutschland viele alevitische Jugendliche, die sehr schlecht türkisch, aber sehr gut deutsch sprechen. Ich sage Ihnen: Sogar die schlecht türkisch sprechenden Jugendlichen kennen diese Lieder, weil sie sie von morgens bis abends hören, bei der Autofahrt, unter Freunden. Es sind sprachliche sehr schöne Gedichte.

 

Aleviten in Deutschland, Proteste gegen Ministerpräsident Erdogan, das Massaker in Sivas

Reinbold
Frau Yildiz, ich hatte angefangen mit der Beobachtung, dass man in der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit dem Namen Aleviten bis vor kurzem nichts anfangen konnte, obwohl Aleviten seit dem Beginn der Migration aus der Türkei, also seit den frühen 60er Jahren hier leben. Woran liegt das, dass es so lange gedauert hat, bis die Aleviten auf sich aufmerksam gemacht haben?

Yildiz
Das hat viele Gründe. Zunächst ist es natürlich so: Wer keine Probleme bereitet, der fällt auch nicht auf. Hinzu kommt ein zweiter Grund: Die Aleviten haben in der Vergangenheit viele Pogrome erlebt, sie sind verfolgt worden. Wegen dieser Erfahrung scheuen sie sich, ihre Religionszugehörigkeit preiszugeben. Wir erleben das immer wieder, auch bei der Suche nach alevitischen Religionslehrern. Wir haben Lehrer, die an ihren Stammschulen nicht unbedingt bekannt machen wollen, dass sie alevitischen Ursprungs sind. Auch bei der Anmeldung der Schüler ist es oft schwierig. Die Eltern geben nicht an, dass ihre Kinder alevitisch sind, sondern lassen sich unter der Rubrik „islamisch“ subsumieren. Da ist eine gezielte Nachfrage enorm wichtig, um die Religionszugehörigkeit der Schüler herauszubekommen. Es gibt immer noch Ängste und Sorgen. Das steckt immer noch in den Köpfen der Leute drin.

Reinbold 
Bis heute trauen sich die Leute nicht zu sagen, dass sie Aleviten sind, weil sie schlechte Erfahrungen damit gemacht haben?

Yildiz
Genau. Deshalb ist der Selbstbehauptungsprozess enorm wichtig. Ich denke auch, dass der alevitische Religionsunterricht eine Chance ist, diesem Problem entgegen zu wirken. Wenn wir anfangen, selbstbewusst mit unserer Religion umzugehen, uns dazu zu bekennen, dann projizieren wir das natürlich auch auf die Andersgläubigen und bewirken dadurch eine Anerkennung. Die Schüler lernen auch, mit solchen Ängsten, mit Vorurteilen und mit Anfeindungen besser umzugehen. Sie können dann besser reagieren. Das ist wichtig für die Identitätsfindung der Schüler. Deswegen finde ich, dass der alevitische Religionsunterricht diesbezüglich einen enormen Beitrag leisten kann, vor allem hinsichtlich der Aufklärung.

Reinbold
Das hat zu tun mit den schlechten Erfahrungen, die Aleviten gemacht haben, insbesondere auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Aber auch ganz aktuell: Herr Kahraman, Sie haben vor drei Monaten eine große Demonstration im Bochumer Fußballstadion organisiert, gegen den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Die alevitische Gemeinde hat energisch protestiert gegen die Verleihung eines Toleranzpreises, den er bekommen sollte. Was hat Sie dazu bewogen, diese Demonstration gegen Herrn Erdogan zu veranstalten?

Kahraman
Der „Steiger-Award“ ist eine Auszeichnung, die seit 2005 jährlich an Personen verliehen wird, die sich besonderes für Menschlichkeit und Toleranz engagiert haben. Ministerpräsident Erdogan sollte für die deutsch-türkische Freundschaft diesen Preis erhalten, weil er sich für Demokratie und Toleranz einsetzt. Wir haben gesagt: Halt!, das ist nicht richtig, das ist nicht so.

Die Aleviten haben immer noch keine Rechte in der Türkei. Es gibt seit drei Jahren einen so genannten Fachkreis, der den Aleviten Rechte bringen soll im Zuge der Demokratisierung. Aber bis jetzt haben die Aleviten keine Rechte bekommen. Ganz im Gegenteil. Wir haben eine große Ohrfeige in diesem Jahr bekommen von Ministerpräsident Erdogan.

Im März 2012 wurden Mörder freigesprochen. Es gab 1993 in der Region von Sivas ein Kulturfestival, das jedes Jahr zu Ehren eines alevitischen Dichters stattfindet. Zu dem Kulturfestival kommen sehr viele internationale Künstler und Künstlerinnen. 1993 hat im Rahmen eines Workshops ein Autor namens Aziz Nesin, er stammt aus einer sunnitisch-muslimischen Familie, gesagt, dass er kein Moslem, sondern Atheist ist. Er hat gesagt, dass er den Koran ehrt, sich aber mit ihm nicht identifizieren kann. Weiterhin hat er gesagt, dass jeder in der Türkei seine Religion frei ausüben können soll. Wer nicht religiös ist, sollte die Freiheit haben, das zu sagen. Daraufhin kam es zu einer Hetzpropaganda in der Stadt. Es wurden Handzettel verteilt, auf denen die Aleviten beschuldigt wurden, sie seien ungläubig, Häretiker, Ketzer. Die Aleviten müssten umgebracht werden, insbesondere der Autor Aziz Nesin. Am Tag darauf fand vor dem Hotel, in dem Nesin und viele andere Künstler und Künstlerinnen untergebracht waren, eine Großdemonstration statt, an der ca. 5.000 bis 10.000 Islamisten teilnahmen. Nach vier bis fünf Stunden Kundgebung haben sie das Hotel angezündet. Bei diesem Brand sind 35 Menschen umgekommen. Das Ganze ist passiert vor laufender Kamera. Die Polizei, die Feuerwehr und das Militär sehen zu und greifen nicht ein. Danach waren die Aleviten empört. Sie fragen sich: Wie kann das sein, dass der Staat uns nicht schützt? Vor laufender Kamera, vor den Augen des Militärs, vor den Augen der Öffentlichkeit werden Menschen umgebracht! Die Staatsoberhäupter haben einen Tag später in den Pressekonferenzen gesagt: „Es gab Unruhen in dieser Stadt. Gott sei Dank ist dem Volk nichts passiert.“ Als ob diese 35 Personen nicht zum Volk gehören!

Reinbold
Und die Mörder sind gerade jetzt frei gesprochen worden?

Kahraman
Viele von den Mördern sind davon gekommen, manche haben nur kleine Strafen erhalten, andere konnten ihren Pass ändern. Viele leben heute in Deutschland. Sie haben es irgendwie geschafft, aus dem Gefängnis und über die Grenzen zu kommen und haben hier ein neues Leben begonnen. Sie haben Geschäfte in Deutschland. Der eine hat in Mannheim einen Dönerladen, der andere lebt in Berlin und hat ein Internetcafé und ein Restaurant. Die letzten, die noch in der Türkei waren und gesucht wurden, die wurden vom türkischen Strafgericht jetzt freigesprochen, weil man gesagt hat, es sind neunzehn Jahre vergangen, dieser Prozess ist verjährt. Ministerpräsident Erdogan hat dann gesagt, dass das Urteil des türkischen Strafgerichts dem Volk Glück bringen soll. Das hat uns natürlich geärgert. Wie kann ein solcher Prozess verjähren? Daraufhin haben wir eine Demonstration gestartet, an der fast 50.000 Menschen teilgenommen haben. Es gab auch eine Demonstration in der Türkei, an der ca. 100.000 Menschen beteiligt waren, nicht nur Aleviten, sondern auch ganz viele Parteivertreter, Nichtregierungsorganisationen, viele Fußballverbände. Die waren empört, dass so ein Prozess verjähren kann. Deshalb haben wir gesagt, dass es nicht sein kann, dass Erdogan diesen Toleranz-Preis bekommt.

Reinbold
Frau Yildiz, Demokratie und Menschenrechte spielen in der alevitischen Gemeinde eine große Rolle. Hängt das mit solchen Erfahrungen zusammen, oder hat seinen Grund eher im Kern der alevitischen Lehre?

Yildiz
Herr Kahraman hat die Ereignisse in Kerbela bereits erwähnt. Wir waren immer schon auf der Seite der Schwächeren und haben uns für Gerechtigkeit eingesetzt und gegen Ungerechtigkeit aufgelehnt. Das ist seit jeher so bis heute. Wir lehnen jegliche Form von Gewalt ab und setzen uns dafür ein, dass Missstände behoben werden.

Reinbold
Herr Kahraman, Aleviten treten gelegentlich auf als eine Stimme, die sich sehr kritisch gegenüber bestimmten Entwicklungen im Zusammenhang mit Muslimen in Deutschland äußern. Sie haben zum Beispiel vor einer „Islamisierung“ Deutschlands gewarnt. Sind Sie nicht der Überzeugung, dass es legitim ist, dass die hier lebenden Muslime ihre Rechte einfordern, die sie nach dem Grundgesetz und den geltenden Gesetzen haben? Oder finden Sie diese Entwicklung falsch?

Kahraman
Ganz im Gegenteil. Man soll hier seine Religion frei ausüben können, nicht nur die Muslime, sondern jede Religionsgemeinschaft. Was ein wenig untergeht, ist, dass man die Intoleranz nicht tolerieren darf. Damit sind nicht die Muslime insgesamt gemeint. Aber es gibt bestimmte Organisationen und Gruppen, die eine Art Takiyya betreiben. Takiyya ist ein Terminus aus dem islamischen Raum. Takiyya heißt, dass man sich nach außen hin anders gibt als man wirklich denkt. Die Demokratie darf keiner dafür benutzen, um politisch rechtes Gedankengut, Gedankengut des Mittelalters oder menschenverachtendes Gedankengut zu verbreiten. Die Sorge ist, dass eine Art Unterwanderung passiert. Man muss sich klipp und klar mit diesen Themen auseinandersetzen. Das Problem der Mehrheitsgesellschaft ist, dass sie manchmal salonfähig rüberkommen möchte und ihre Kritik nicht offen sagt. Auf der anderen Seite ist es bei den Migranten so, dass sie auch nicht zeigen, wie sie sind. Solange diese Transparenz nicht vorhanden ist, wird es nicht funktionieren.

Reinbold
Das sind starke Worte, die Sie wählen. In der rechtspopulistischen bzw. in der rechtsradikalen Szene sind das ja große Themen, die absichtliche Täuschung durch „Takiyya“ und die „Unterwanderung“. Würden Sie das so sagen? Das ist ja ein erheblicher Vorwurf an viele muslimische Verbände.

Kahraman
Ich sage ja, man darf das nicht immer direkt in Verbindung mit dem Islam oder mit Muslimen bringen, man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Aber es gibt Gruppen, vor denen muss man einfach warnen. Wenn man sich einmal die Gruppe der Salafisten ansieht, da kann man nicht von „Unterwanderung“ reden, aber das Ziel ist klar. Bei den Salafisten ist das Gute, dass man sie erkennt, dass sie nicht so professionell sind. Aber es gibt andere Gruppen, die machen das auf eine ganz andere Art.

Reinbold
Frau Yildiz, Haben Sie den Eindruck, dass sich die deutsche Gesellschaft einschläfern lassen hat in den vergangenen Jahren? Viele haben ja eher den Eindruck, dass eine starke Islamfurcht, ja eine Islamfeindschaft in Deutschland da ist. Die Debatte nach Sarrazin hat es gezeigt. Man kann doch wirklich nicht mehr sagen, dass Islamkritik in diesem Land keine Rolle spielt, eher im Gegenteil. Muslime klagen oft darüber, dass nur das Negative in der Zeitung steht und dass immerzu gewarnt wird, dass aber die positiven Beispiele nicht genannt werden. Finden Sie, dass man in Deutschland zu unkritisch umgeht mit den Problemen?

Yildiz
Ich denke, dass das ein wichtiges Thema ist und dass noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden muss. Die negativen Beispiele und die positiven Beispiele müssen diskutiert werden, noch offensiver als bisher. Wir merken das im schulischen Kontext. Es gibt immer noch Vorurteile gegenüber Minderheiten. Zum Beispiel werden viele alevitische Kinder aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit gemobbt.

Reinbold
In der Klasse wird gemobbt? Du bist ein alevitisches Mädchen. Ich finde dich doof, weil du so bist?

Yildiz
Genau. Es kursieren immer noch ganz fürchterliche Vorurteile, auch von den Kollegen höre ich das immer wieder. Man muss sich immer wieder rechtfertigen. Mich selbst hat einmal der ehemalige Vorsitzende der Alevitischen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen gebeten, in Oberhausen an eine Schule in den muttersprachlichen Unterricht zu gehen und etwas über das Alevitentum zu referieren, weil alevitische Schüler dort von ihren Mitschülern gemobbt wurden.

Aber ich will jetzt nicht nur die negativen Beispiele hervorheben. Ich denke, dass gerade durch den alevitischen Religionsunterricht die Dinge verändert werden können. Zum Beispiel hat mir mein Kollege, unser zweiter Bundesvorsitzender Aziz Aslandemir, erzählt, wenn er unterwegs ist zum alevitischen Religionsunterricht und dann über den Schulhof läuft, dann ist es so, dass dann die sunnitischen Kinder zu den alevitischen Kindern sagen: Du hast jetzt Alevitisch. Daran merkt man, mit welchem Selbstverständnis sie damit umgehen. Das ist ganz wichtig, dass wir dieses Selbstbewusstsein an unsere Schüler herantragen.
 

Alevitischer Religionsunterricht

Reinbold
Ich möchte noch einmal auf den alevitischen Religionsunterricht zu sprechen kommen. Wie muss ich mir das vorstellen? Es gibt im Alevitentum im Wesentlichen mündliche Tradition, haben Sie gesagt, das heißt, Sie haben wahrscheinlich keine Bücher. Wie bringen Sie den Kindern was bei?

Yildiz
Wir haben natürlich einen Lehrplan. Der Grundschullehrplan ist sehr ausführlich, alle wichtigen Elemente sind aufgeschrieben worden. Bisher hatten wir drei Durchläufe zur Ausbildung alevitischer Lehrer, und in diesen Zertifikatskursen sind viele Unterrichtsmaterialien entstanden. Jetzt haben wir mit dem Kompetenzteam aus dem Rhein-Sieg-Kreis im Internet eine Lehrerplattform eingerichtet. Dort werden alle Unterrichtsmaterialien eingestellt, die Unterrichtsverläufe und die dazugehörigen Arbeitsblätter. Jeder Lehrer, der den alevitischen Religionsunterricht erteilt, bekommt einen Zugang und kann sich die Materialien herunterladen. Die Lehrer können auch ihre eigenen, neuen Materialien einstellen. Ich überprüfe sie dann als Administratorin und mache sie anschließend für alle zugänglich. Das ersetzt natürlich kein Schulbuch, aber für die Übergangszeit ist es eine enorme Hilfe. Über kurz oder lang brauchen wir ein Schulbuch, es ist schon in Planung.

Reinbold
Sie sind also in einer Experimentierphase, probieren aus, was funktioniert und was nicht funktioniert, welche Materialien gut sind und welche weniger gut. Was wollen Sie den alevitischen Kindern im Religionsunterricht vor allen Dingen beibringen?

Yildiz
Zuerst einmal lernen sie alevitische Grundsätze. Sie lernen, wie sie diese im Leben, im Alltag und in der Schule reflektiert umsetzen können. Ganz wichtig ist, dass sie Toleranz gegenüber Andersgläubigen entwickeln. Daher ist auch der interreligiöse Dialog so wichtig. Und wichtig ist das, was ich schon zu Beginn erwähnt habe: Wir wollen uns nicht mehr über unsere Defizite definieren, sondern über das, was wir sind. Das machen unsere Schüler im alevitischen Unterricht sehr gut. Sie sagen nicht mehr, was sie nicht sind, sondern sie sagen. Wir haben den und den Heiligen, bei uns gibt es die und die alevitischen Feiertage und Gedenktage, die und die alevitischen Heiligen, dazu die Fürbitten und Gesänge, die bestimmte Leitsätze, Grundsätze, und so weiter.

Reinbold
Sie haben vorhin gesagt, Sie möchten gern noch weiter gehen oder sind schon dabei, weiterzugehen und wollen so etwas wie „Alevitische Studien“ an einer deutschen Universität etablieren. Ist da schon etwas entstanden?

Yildiz
Es gibt an der pädagogischen Hochschule in Weingarten das Fach „Alevitische Religionspädagogik“ als Lehramtserweiterungsfach. Es gibt sechs Seminarangebote, die in Form von Blockveranstaltungen absolviert werden. Man kann auch eine staatliche Prüfung ablegen. Zurzeit läuft es noch unter der Fachrichtung „Islamische Religionspädagogik“. Wir haben aber bereits einen Antrag gestellt, um es als eigenständige Fachrichtung zu etablieren. Der Antrag wurde angenommen. Es wird also ab dem Sommersemester 2013 unter dem Namen „Alevitische Religionspädagogik“ laufen.

Darüber hinaus gibt es Gespräche mit der pädagogischen Hochschule in Heidelberg. An der Kölner Universität haben wir einen Antrag gestellt, um die Fachrichtung „Alevitische Studien“ einzurichten mit einem Forschungsbereich. Die Kölner Universität hat intern eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die jetzt ein Papier vorbereitet. Der nächste Schritt wäre dann die Beantragung des Fachbereichs durch die Universität. Auch in Hamburg haben wir etwas vor. Geplant ist eine wissenschaftliche Stelle an der Akademie der Weltreligionen. Das Thema wurde im Text des Staatsvertrags aufgegriffen, der zurzeit zwischen der Stadt Hamburg und der Alevitischen Gemeinde Deutschlands verhandelt wird.

Reinbold
Weingarten, Heidelberg, Köln und Hamburg könnten zu Zentren alevitischer Lehre werden, wo die angehenden Religionslehrer das Alevitentum studieren können, so wie Muslime heute schon Islamische Religionspädagogik studieren können, in Osnabrück und in Tübingen und anderswo. Das heißt: An diesen Orten wird man dann über die Fragen, die wir heute diskutiert haben, wissenschaftlich fundiert und mit dicken Büchern Auskunft geben können.

Kahraman
Genau. Ich wollte noch eine kurze Anmerkung machen. Wir haben über die Bedeutung der mündlichen Tradition gesprochen. Es ist nun aber nicht so, dass es bei den Aleviten gar keine Bücher gäbe. Es gibt heilige Schriften von Bektasch Weli. Auch die Buyruk ist eine sehr heilige Schrift für die Aleviten. Allerdings wird sie nicht von der breiten Masse gelesen, sondern nur von den Priesterfamilien. Sie studieren diese Schriften und geben die Lehre innerhalb der Familie und dann mündlich an die so genannten Laien weiter.

Reinbold
Gibt es die Buyruk auch auf Deutsch?

Kahraman
Leider nicht. Aber vielleicht könnte man sie im Rahmen eines Instituts übersetzen und sich wissenschaftlich damit befassen.

Yildiz
Ich meine, es gibt eine deutsche Übersetzung.

Kahraman
Davon weiß ich nichts.

Reinbold
Ist das Buch im Buchhandel erhältlich?

Yildiz
Es ist meines Wissens zurzeit schwierig, an das Buch heranzukommen.

Reinbold
Ich glaube, da kann ich für die meisten unter uns sprechen: Die Übersetzung und Kommentierung dieses alevitischen Grundtextes, das wäre eine große Aufgabe. Wenn Sie die Buyruk in einem deutschen Verlag herausbringen, so dass man sie in jeder Buchhandlung kaufen kann, würden Sie für die deutsche Gesellschaft etwas Gutes tun.

(Redaktion: Wolfgang Reinbold).