Mitschrift: Islamischer Religionsunterricht (Teil 2)

Zum Gespräch: Endlich am Ziel? Gegenwart und Zukunft des Islamischen Religionsunterrichtes


Reinbold 
Frau Abdel-Rahman, spielt dieser Aspekt für Ihren Unterricht eine Rolle?

Abdel-Rahman 
Ich sehe das ganz genauso. Gerade in den Religionsunterrichten wird ein bestimmtes Wertebewusstsein gefördert, wird über ethische Fragen diskutiert. Das ist in den anderen Unterrichten manchmal der Fall, wenn es sich aus dem Kontext ergibt, aber der Religionsunterricht ist ein großer Träger dieser Wertediskussion. Die muslimischen Kinder hatten in Niedersachsen in den ersten vier Jahren während des christlichen Religionsunterrichtes keinen Unterricht. Wenn die Schule genug Lehrkräfte zur Verfügung hatte, gab es vielleicht einmal so etwas wie Soziales Lernen. Aber im schlimmsten Fall haben die muslimischen Kinder vier Jahre auf die Anderen gewartet und Mandalas ausgemalt. Von daher kann ich das, was Herr Kraft gesagt hat, voll unterstützen. 

Kraft 
Wenn ich noch etwas anfügen darf: Ich habe mir im Vorfeld dieses Gesprächs den Rahmenplan nochmals sehr genau angesehen. Ich habe den Eindruck, dass das Verhältnis von Erziehung und Bildung im islamischen Kernkurrikulum noch nicht geklärt ist. Viele Teile stehen unter dem Vorzeichen: Das müsste man eigentlich als Muslim machen. Es ist keine diskursive Ethik, die dort präsentiert wird, sondern eher eine normative: Das sollte man tun, du sollst deinen Eltern helfen, du sollst deinen Müll herunter tragen, und dergleichen. Das Verhältnis von Erziehung und Bildung ist anders gesetzt als wir es im Evangelischen Religionsunterricht tun.

Zurzeit geht es auf ein Kurrikulum für die Sekundarstufe Eins zu. Da müssen meines Erachtens dann auch Fragen, die bisher ausgespart wurden, viel offener und klarer diskutiert werden, etwa: Welche Bedeutung hat das islamische Rechtsverständnis für das Handeln in der Familie, für den Einzelnen, in der Gesellschaft?

Abdel-Rahman 
Ich denke, das liegt auch daran, dass wir noch keine wirklich ausgebildete islamische Religionspädagogik haben. Die Entstehung des Kurrikulums war ja im Grunde genommen ein Schreiben auf dem weißen Blatt. Zwar hatte man die Kurrikula aus verschiedenen muslimischen Verbänden, Sie haben das vorhin schon erwähnt, aber daraus konnte man nicht viel übernehmen. So hat man sich den Rat evangelischer Religionspädagogen geholt und geschaut, wie es im Evangelischen Religionsunterricht gemacht wird. Man hat dann gesehen, dass man manches übernehmen konnte und manches nicht. Wir Muslime müssen für uns selber klären, wie wir mit religiösen Normen, mit Individualnormen und mit gesellschaftlichen Normen umgehen. Auch die Methodenfrage müssen wir selbst beantworten: Welche Methoden passen bei uns, und welche sind nicht geeignet? Ich denke, dass das jetzt vorliegende Kurrikulum nochmals überarbeitet werden wird nach den Erfahrungswerten.

Reinbold 
Damit sind wir wieder bei der Frage nach der Praxis, die in der aktuellen Debatte insbesondere im Zusammenhang mit der so genannten „Idschaza“ sehr kritisch diskutiert worden ist, also mit der Lehrerlaubnis für den islamischen Religionsunterricht. Der erste Entwurf dieser Lehrerlaubnis ist von nicht wenigen Muslimen hart kritisiert worden. Manche haben gesagt: Dieser Beirat ist ultrakonservativ, und er spielt sich auf als eine Art Religionspolizei, die den Leuten sagt: So und so und so musst du sein. Und wenn du nicht so und so bist, dann darfst du nicht unterrichten. Sie sitzen im Beirat, was sagen Sie zu dieser Kritik?

Abdel-Rahman 
Es gab sehr viel Kritik. Kritik wie Sie sie formuliert haben, und auch Kritik, wir seien viel zu lasch und nicht konservativ genug. Es gab Tage, an denen habe ich innerhalb von zwei Stunden beides zugleich gehört. Daran sieht man, wie breit das Spektrum ist.

Es gibt berechtigte Kritik: Die Lehrerlaubnis war im ersten Entwurf wenig einladend für jemanden, der islamischer Religionslehrer werden möchte. Er hat das gelesen und sich wahrscheinlich abgestoßen gefühlt. Wir haben vorher bestimmt anderthalb Jahre intensiv daran gearbeitet, und wir hatten ganz andere Entwürfe, die anderen Rahmenbedingungen geschuldet waren. Ich glaube, wir waren in bestimmten Dingen betriebsblind und haben nicht gesehen, was für eine Wirkung das hat, weil wir schon so viel diskutiert und so viel verändert hatten. Daher war es sehr gut, dass wir den Entwurf öffentlich gemacht und zur Kritik eingeladen haben.

Es ist durchaus sehr problematisch, das trifft wahrscheinlich auch auf alle anderen Religionen zu, jemandem zu sagen: Du darfst jetzt im Namen dieser Religion unterrichten. Das ist eine ganz große Verantwortung, und es ist auch sehr schwer zu fassen. Wir haben uns für drei Kriterien entschieden. Jemand muss eine pädagogische Ausbildung haben, dazu eine theologische Ausbildung, und die charakterliche Eignung muss vorhanden sein. Die ersten beiden Dinge sind relativ leicht festzustellen: Man hat einen Nachweis von der Universität, das genügt. Wie aber ist das mit der charakterlichen Eignung? Das ist äußerst problematisch.

Auf der anderen Seite haben wir aber auch eine Verantwortung vor den Moscheeverbänden und -gemeinden, in deren Auftrag wir jahrelang diesen Modellversuch durchgeführt haben. Die haben natürlich gesagt: Ich möchte einen Muslim als Lehrer haben, dem ich mein Kind anvertrauen kann. Ich möchte, dass mein Kind nichts Falsches lernt. Daher haben wir gesagt: Es ist uns wichtig, dass Menschen, die diese Religion unterrichten, vertraut sind mit dem Leben in einer Moschee. Diese Vertrautheit können sie leicht nachweisen, indem sie zum Beispiel während ihres Studiums ein Praktikum machen. Dann sind sie vertraut mit den Abläufen, wissen, wie eine Moschee von innen aussieht, was man dort macht und wie man auf Leute zugeht, wenn man in einer Schule unterrichtet und eine Moschee im Wohngebiet ist. Am Anfang war dieses Kriterium der Vertrautheit in unserem Text sehr harsch formuliert, das ist korrekt. Wir haben es dann aufgrund der Kritik und vieler interner Diskussionen herausgenommen. Es ist wichtig, dass die Kinder und auch die Eltern Vertrauen zu den Lehrkräften entwickeln können. Das heißt nicht, dass sie perfekte gläubige Muslime sein sollen. Aber sie sollen wahrhaftige Menschen sein. Es wird nie leicht sein, das zu fassen, denke ich, es wird immer problematisch sein. Deswegen haben wir die genannten Kriterien aufgestellt, die man im Internet im Einzelnen nachlesen kann.

Die Lehrerlaubnis richtet sich im Übrigen an Menschen, die mit dem Studium beginnen, nicht an die Lehrer, die im Modellversuch unterrichten – sie würden ja bestraft werden, wenn man nachträglich besonders schwere Bedingungen für sie schafft. Es geht darum, dass jemand, der mit dem Studium beginnt, von Anfang an weiß, worauf er sich einlässt. Zugleich begleitet der Beirat die Studenten. Wenn jemand ein Problem hat, seinen Praktikumsplatz nicht findet oder irgendetwas anderes problematisch ist, dann ist man im Gespräch. Heute ist übrigens ein denkwürdiger Tag: Heute haben wir die erste Idschaza ausgegeben. Ich finde, das ist ein schöner Anlass, das hier zu erwähnen.

Reinbold
Herr Kraft, Frau Abdel-Rahman sagt, eine Charakterprüfung gehöre hinzu, auch wenn das natürlich sehr schwer festzustellen sei. Der ursprüngliche Satz in der Idschaza besagte, man müsse „eine fortwährende Lebensweise nach der rechten islamischen Lehre und den guten Sitten“ nachweisen. Wie finden Sie das als evangelischer Religionslehrer? Gibt es so etwas in der evangelischen Kirche?

Kraft
Ich finde das schrecklich, und ich glaube, ich wäre nie evangelischer Religionslehrer gewesen, wenn es so einen Text gegeben hätte. Und ich wundere mich darüber.

Ich habe die Diskussion ein wenig mitverfolgt. Der Text hat weniger evangelische als katholische Vorlagen. Ich sehe darin eine Katholisierung des Islams. Warum Sie, Frau Abdel-Rahman, und der Beirat das wollen, verstehe ich eigentlich nicht. Ich finde es problematisch, dass Verbände bestimmen dürfen, wer das Fach unterrichtet. Ich sehe zwar ein, dass in irgendeiner Form ein Einverständnis gegeben werden muss. Aber man gibt in der jetzigen Situation Verbänden eine Deutungshoheit, mit der sie sehr sorgfältig umgehen sollten. Der Islam ist wesentlich vielfältiger als er sich in seiner Verbandsstruktur abbildet. Eine Idschaza zu machen, die diese Pluralität nicht widerspiegelt, sondern eher einen Machtwillen im Sinne von Deutungshoheit, finde ich höchst problematisch. Es gab durchaus auch islamische Kritiker, die gesagt haben: Das ist ja völlig unislamisch. Wer kann denn bestimmen über meine Lebensweise? Da sind wir Protestanten doch viel eher verwandt mit Ihnen in unserer Unmittelbarkeit zu Gott. Wir brauchen da nicht noch die Gemeinschaft oder die Kirche als Heilsvermittlungsinstanz.

Das andere ist: Wenn ich von einer „islamischen Lebensführung“ spreche, da muss ich doch auch sagen: Was ist da gemeint? Bei den Katholiken wissen wir, worauf sie Wert legen. Darauf kann man sich einstellen. Da ist sehr klar benannt, was aus katholischer Sicht als Lebensführung im Blick auf Ehe und Scheidung nicht in Frage kommt. Bei den Muslimen weiß ich es nicht, und es ist auch in dieser Erklärung nicht offen benannt. Da ist meine Sorge, dass diejenigen, die sagen: „Die Idschaza verlangt von mir, das ich mich in einer bestimmten Art und Weise zum Islam verhalte. Eigentlich habe ich aber ein anderes oder ein weiteres Herz, als es diese Verbände widerspiegeln.“ Diese Kräfte werden Ihnen als Lehrkräfte verloren gehen. Das ist meine große Sorge.  

Abdel-Rahman 
Die Idschaza schließt keine Pluralität aus. Im zweiten Entwurf des Textes haben wir diesen Passus mit den Sitten ja gar nicht mehr drin, sondern wir haben jetzt geschrieben, dass man sich zu den Grundlagen des Islams bekennen muss. Diese Grundlagen des Islams sind im Kernkurrikulum verankert.

Als wir mit dem Modellversuch begonnen haben, haben wir uns auf das Minimum religiösen Inhalts geeinigt, das sind die fünf Säulen und die fünf bzw. sechs Glaubensinhalte. Das ist für uns das Minimum. Wenn jemand sagt: „Für mich reicht, dass ich an Gott glaube, dass ich das Glaubensbekenntnis sage (Schahada), aber den Rest der fünf Säulen erkenne ich nicht an.“ Dann wird es problematisch, weil wir nicht mehr die gleiche Basis haben. Pluralität ist auf jeden Fall gegeben. Es ist für uns nicht wichtig, ob jemand Sunnit oder Schiit ist, welcher Rechtsschule er angehört, all das spielt keine Rolle. Wir kontrollieren auch nicht die Lebensweise, sondern wir haben den Text so geändert, dass derjenige, der eine Lehrerlaubnis haben möchte, ein Selbstzeugnis abgibt und sagt: Ich verpflichte mich, dass ich vorbildhaft lebe.

Kraft
Haben Sie das bisher verlangte Zeugnis eines Imams auch gestrichen? Bei uns braucht man lediglich eine formale Erklärung, dass man Mitglied der Evangelischen Kirche ist.

Abdel-Rahman 
Der Kandidat braucht kein Zeugnis von einem Imam, dass er vorbildhaft in der Moschee war und gebetet hat, sondern er braucht nur ein Schreiben von einer Moschee, dass er in dieser Moschee bekannt ist und vielleicht dort auch mal gesehen wurde. Das kann man erbringen durch das Praktikum innerhalb des Studiums. Das Praktikum ist für uns im Übrigen auch eine Absicherung. Wir möchten keine Muslime haben, die Inhalte vermitteln, die sehr radikal sind oder extrem fundamentalistisch. Es ist für uns schön, wenn wir Muslime haben, die in der ein- oder anderen Moschee schon einmal waren und sich dort im Mainstream befinden.

Noch etwas anderes: Wir haben uns beraten lassen und viel gesprochen mit Vertretern beider Kirchen. Ich denke, wir befinden uns in der Mitte zwischen katholischer und evangelischer Kirche.

Kraft
Also das Evangelische entdecke ich wenig.

Abdel-Rahman
Wir haben nicht so viele Bedingungen wie die katholische Kirche. Unsere Lehrer müssen nicht so viel erfüllen wie katholische Lehrer. Auf der anderen Seite muss ich auch ganz deutlich sagen: In meinem täglichen Leben, wenn ich als Mutter von drei Kindern mit evangelischen Religionslehrern spreche, erkläre ich diesen Religionslehrern oft, was für einen Unterricht sie geben. Sehr viele evangelische Religionslehrer wissen gar nicht, dass sie bekenntnisorientiert unterrichten.

Reinbold 
Lassen Sie mich einmal ganz praktisch fragen: Als Religionslehrer muss ich fünf Mal am Tag beten. Ich kann nicht sagen, ich bete manchmal auch nur einmal oder zweimal. Ist das so?

Abdel-Rahman 
Das fünfmalige Gebet ist ein Teil der religiösen gottesdienstlichen Handlungen, die verpflichtend sind im Islam. Als Religionslehrer sollte ich das auch so vermitteln. Ob ich selbst zu Hause fünfmal bete, das ist dann meine Sache.

Reinbold 
Die meisten Muslime in diesem Land beten aber nicht fünfmal am Tag.

Abdel-Rahman
Das ist Sache des Lehrers und der Lehrerin. Aber wenn jemand vor der Klasse steht und sagt: „Also mit dem Gebet, macht mal, wie ihr denkt!“, wird es problematisch. Es ist nicht richtig.

Reinbold 
Wenn ich also zu Ihnen komme und sage: „Ich möchte islamische Religionspädagogik studieren und bin ein frommer Muslim. Aber ich muss ehrlich sagen: ich halte das mit den Gebeten wie viele andere auch ein bisschen lockerer, morgens und abends und mittags, wenn es passt, aber nicht fünf Mal am Tag“. Kann ich dann studieren? Oder würden Sie abraten, weil ich damit sowieso kein Religionslehrer werde?

Abdel-Rahman 
Natürlich können Sie dann studieren. Es geht nicht darum, dass wir das nachprüfen. Es geht darum, welche Haltung ein islamischer Religionslehrer zu diesen Inhalten hat. 

Reinbold 
Besteht aber nicht die Gefahr, dass dann Eltern kommen und sagen: „Der betet ja gar nicht richtig.“ Oder: „Der hat neulich beim Schulempfang, als es Sekt für alle gab, das Glas genommen und daran genippt, obwohl das verboten ist. Der kann nicht mehr Islam unterrichten.“ Was machen Sie dann?

Abdel-Rahman 
(Ironisch) Das ist schon äußerst problematisch. Dann müsste man genau den Inhalt des Sektglases prüfen.

Kraft
Frau Abdel-Rahman, Sie haben gesagt, Sie verlangen eigentlich nichts anderes als das, was im Kernkurrikulum der Grundschule steht. Das hört sich ja erst einmal gut an. Eine entscheidende Frage ist im Kernkurrikulum aber doch offen, nämlich die Frage nach den inhaltlichen Grundlagen des Islams. In der Einleitung steht irgendwo mal der Satz, man dürfe den Koran auch geschichtlich verstehen, aber bitte nicht alles. Was das aber konkret heißt, wird an keiner Stelle erläutert. Stattdessen gibt es einen Anhang mit Koransuren und Hadithen mit vielen netten Geschichten. Wenn ich das durchlese, frage ich mich, wie ich das denn verstehen soll. Wie offen ist die Interpretation? Gibt es plurale Deutungen? All das wird offen gelassen.

Das Koranverständnis ist eine der Kernfragen sowohl des muslimischen Selbstverständnisses als auch als des Kurrikulums. Wenn diese Kernfrage so gut wie ungeklärt ist, wie können Sie da zu verbindlichen Aussagen über bestimmte charakterliche Eigenschaften der Lehrkräfte kommen? Sie selbst schreiben ja in Ihren Reflexionen über die Aufgabe einer Schulbuchautorin, wie schwierig es ist, in der jetzigen Situation Aussagen zu einer Korandidaktik zu machen und dass Sie da noch auf dem Weg sind. Wenn aber diese hermeneutischen Grundfragen noch offen sind: Wie können Sie dann einen solchen Text wie die Idschaza verfassen?

Abdel-Rahman 
Das sind zwei verschiedene Dinge. Der Beirat vertritt die organisierten Muslime, die in Niedersachsen den Islamischen Religionsunterricht möchten. Wir sammeln das, was diese Muslime als charakteristisch für ihr Verständnis von Islam sehen, und das sind die gottesdienstlichen Handlungen wie das fünfmalige Gebet, das Fasten, die Wallfahrt (Hadsch) und die Sozialabgabe (Zakat), also das, was wir als fünf Säulen des Islams kennen. Das ist für sie verbindend als Muslime. Daher sollte auch ein Lehrer diese Haltung haben. Ob dieser Lehrer zu Hause im Einzelfall nur drei Mal betet, weil er vielleicht nicht dazu kommt und gestresst ist oder weil er müde ist oder weil er gerade ein religiöses Tief hat oder weil er selber auf dem Weg ist, all das ist seine Sache. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht um die Haltung, die er vermittelt. Ich bin absolut d'accord mit Ihnen, dass das relativ schwer abzuschätzen ist. Aber es reicht nicht aus, nur einen Universitätsabschluss vorzulegen und zu sagen: Ich habe das beides studiert. Das kann man auch als Nichtmuslim machen. 

Kraft 
Ich habe ja anders argumentiert. Ich habe gesagt: Sie machen es fest an dem, was Sie als die fünf Säulen des Islam bezeichnen. Letztendlich sind diese Regeln und Gebote und das Rechtsverständnis abgeleitet aus der Hadith-Tradition und aus den koranischen Texten. Wenn Sie die zentrale Frage offen lassen, wie ich überhaupt mit diesen Texten umgehen soll, wie können Sie da die Lehrer und Lehrerinnen auf eine bestimmte Praxis verpflichten? Das ist der Widerspruch. 

Abdel-Rahman 
Das sind zwei verschiedene Dinge. Die fünf Säulen stellt letztendlich kein Muslim in Frage. Das sind gottesdienstliche Handlungen, die von den meisten Muslimen, die sich als religiöse Gläubige empfinden und definieren, ohne zu diskutieren angenommen werden. Es gibt zwar Leute, die das ablehnen. Aber das sind im Koran festgelegte Inhalte, die der Glaubenspraxis dienen.

Reinbold 
Verstehe ich das recht: Ich muss als Lehrer auf jeden Fall die Haltung haben, dass die fünf Säulen gelten; ob ich mich aber zu Hause auch streng an die fünf Säulen halte, ist meine Sache. Ist das so? Und wenn ja: Darf ich das den Schülern dann auch sagen?

Abdel-Rahman
Das ist eine interessante Frage. Wie wahrhaftig wären Sie denn, wenn Sie mit den Schülern nicht darüber diskutierten? Natürlich darf ich darüber sprechen, ob ich jetzt ein Tief habe zum Beispiel. Es gibt Menschen, die sagen: Mir fällt das Gebet total schwer. Warum soll man das nicht machen? 

Reinbold 
Um noch einmal das Schulbuch „Saphir“ zu zitieren. Saphir sagt so viel wie: Wir bieten den Schülern das Modell der fünf Säulen an. Aber die Schüler müssen doch am Ende selbst sehen, wie weit sie dieses Modell übernehmen und wie sie damit zurechtkommen.

Abdel-Rahman 
Nein. Es ist nicht so beliebig. Ich denke, es geht nicht darum, dass wir sagen: „Die Inhalte sind beliebig.“ Das sind sie nicht. Es gibt Inhalte, wo wir sagen können: „Das steht Dir offen, ob du das so oder so machst.“ Aber es gibt Inhalte, wo wir sagen: „Das ist meine gottesdienstliche Pflicht. Das ist mir vorgeschrieben.“ Das ist nun mal zum Beispiel das Gebet fünf Mal am Tag. Wie ich mit dieser Pflicht umgehe, ist die andere Sache. Aber es ist keine beliebige Geschichte.

Reinbold 
Wir müssen noch ein ganz heikles Thema ansprechen: Wie ist es eigentlich mit dem Kopftuch? Zurzeit haben ja alle Lehrerinnen kein Kopftuch, weil es in der Schule in Niedersachsen verboten ist. Wird das in Zukunft noch möglich sein? Oder muss die muslimische Religionslehrerin in Zukunft mit Kopftuch unterrichten?

Abdel-Rahman 
Nein, das muss sie natürlich nicht. Wir haben im Zuge der Kopftuchdiskussion, die wir seit über zehn Jahren in Deutschland führen, immer schon die Haltung vertreten, dass eine Frau frei entscheiden muss, ob sie Kopftuch tragen darf oder nicht. Auch im Zuge des Kopftuchverbots an öffentlichen Schulen haben wir immer so argumentiert, dass eine muslimische Frau das Recht haben muss, für sich zu entscheiden, ob sie diesem Gebot – wenn sie es für sich als Gebot sieht – folgt oder nicht. Genau die gleiche Freiheit muss ich ihr zugestehen für den Islamischen Religionsunterricht.

Es wäre natürlich schön, wenn wir auch hier eine Pluralität hätten: Frauen mit Kopftuch und Frauen ohne Kopftuch. Das würde ich mir wünschen, weil es ja auch die Pluralität der Schüler und ihrer Eltern widerspiegelt. Aber wir können nicht vorschreiben, dass eine Frau Kopftuch trägt. Stellen Sie sich vor: Eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern muss diesen Job machen und setzt sich ein Kopftuch auf, damit sie unterrichten kann. Das wäre nicht im Sinne des Islams. Aber es wäre schön, wenn wir Bedingungen hätten, dass jede diese Frage für sich frei entscheiden kann.

Kraft
Die Kopftuchfrage ist eine schwierige Frage. Mir wurde gesagt, dass im Islamischen Religionsunterricht durchaus das Kopftuch getragen werden kann. Aber wenn die Lehrerin den Flur betritt, muss sie das Kopftuch wieder abnehmen. Im Unterricht darf es aufgesetzt werden, außerhalb des Klassenraums nicht. Das ist schwer vermittelbar, und der erzieherische Wert ist problematisch.

Gleichzeitig werden wir die Situation haben, dass muslimische Lehrkräfte über Gestellungsverträge an die Schule kommen. Diese Lehrkräfte müssen nicht nach niedersächsischem Beamtenrecht behandelt werden, so dass wir sagen könnten: Eine Frau im Gestellungsvertrag hat andere Freiheiten als eine Lehrerin, die verbeamtet ist und die noch ein anderes Fach unterrichtet. Solche Fragen werden uns noch beschäftigen.

Mir ist ganz wichtig, und deshalb kann ich Ihre Aussage nur unterstützen, dass die Verbände, die den Religionsunterricht jetzt tragen, wirklich für Pluralität einstehen. Aus Berlin höre ich sehr kritische Stimmen. Danach hat der Druck, das Kopftuch zu tragen, für die Schülerinnen zugenommen. Manche sagen mir: Die Islamische Föderation hat eine Deutungshoheit, die Pluralität ist in Gefahr. Ich hoffe, dass es dazu in Niedersachsen nicht kommt. 

Abdel-Rahman 
Nein, das denke ich nicht. Das Kopftuch war auch von Anfang an für uns gar nicht so ein zentraler Punkt. Wichtig war für uns, ob es überhaupt möglich ist, ein Kopftuch zu tragen. Die Studentinnen der Islamischen Religionspädagogik sind kompetente Frauen, ob mit oder ohne Tuch. Ich würde mir wünschen, dass beide den Weg in die Schule finden. Das würde die Pluralität, die wir im Elternhaus und in der Gesellschaft finden, widerspiegeln, denn manche Schüler haben zu Hause nun einmal Mütter, die Kopftuch tragen. Ich finde, wir sollten diese Mischung auch in der Schule haben und mit viel mehr Gelassenheit und Ruhe mit dem Thema umgehen. Je mehr wir das Thema symbolisch aufladen, umso problematischer wird es für die einzelne Frau, sich für oder gegen das Kopftuch zu entscheiden. 

Reinbold 
Schlussfrage: Sind wir trotz aller von uns angesprochenen Probleme mit dem Modell des konfessionellen Islamischen Religionsunterrichtes auf einem guten Weg? 

Kraft 
Ich denke schon. Ich hoffe es. Ob es in Deutschland jemals wirklich Islamischen Religionsunterricht nach § 7.3 Grundgesetz geben wird, das kann man jetzt noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Nordrhein-Westfalen hat sich das Jahr 2019 vorgenommen. Ich weiß nicht, ob dieses ehrgeizige Ziel erreichbar ist. Die Beiratslösung ist eine Übergangslösung. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir längere Zeit mit dieser Übergangslösung leben werden. Inwieweit die bisherigen Verbände sich so organisieren können, dass sie wirklich den Charakter einer „Religionsgemeinschaft“ nach § 7 bekommen, das ist im Augenblick eine offene Frage. Daran hängt sehr viel im Blick auf die Verankerung des Religionsunterrichts. Aber wir sind auf einem guten Weg.

Abdel-Rahman
Ich sehe es auch so, dass wir auf einem sehr guten Weg sind. Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir den Islamischen Religionsunterricht in Zukunft stärker als Religionsunterricht wahrnehmen, dass wir ihn lösen von der Integrationsdebatte und uns daran erinnern, dass der Inhalt die Religion ist. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir uns in die Diskussion über die Inhalte begeben bzw. über die Methoden, über die Religionspädagogik, über die Theologie, über die Fragen, die Herr Kraft kritisch angemerkt hat, und uns damit auseinandersetzen, damit unser Religionsunterricht ein hochwertiger Islamischer Religionsunterricht wird.

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)

Frau Abdel-Rahman, der Modellversuch läuft jetzt fast zehn Jahre. Könnten Sie uns zunächst einmal auf den Stand bringen: Wie hat man es organisiert, wie sind die Erfahrungen, wo steht der Modellversuch jetzt? 

Abdel-Rahman
Ich denke, dass wir in Niedersachsen durch diesen Modellversuch sehr gut vorbereitet sind für den ordentlichen Islamischen Religionsunterricht. Wir haben vor zehn Jahren mit einer Hand voll Grundschulen begonnen, auch mit einer Hand voll Lehrer. Das haben wir dann sukzessive erweitert. Zu Beginn war der Unterricht eine immense Arbeit für die Lehrer, denn sie mussten ja ein neues Fach geben, ohne jegliches Arbeitsmaterial. Neben ihrem normalen Unterricht haben sie regelmäßig Fortbildungen besucht.

Im Jahr 2008 wurde dann auf Veranlassung des Kultusministeriums eine Evaluation durchgeführt. Es wurde untersucht, wie Eltern, Lehrer und Schüler zu dem Schulversuch stehen. Das Ergebnis war sehr positiv. Das hat alle Beteiligten darin bestätigt, dass man weitermachen muss. Kurze Zeit später haben wir dann das Kernkurrikulum verabschiedet. Es wurde von einer Gruppe islamischer Religionslehrer und islamischer Religionspädagogen erarbeitet und wurde mit den Muslimen, die am sogenannten „Runden Tisch“ des Kultusministeriums beteiligt waren, abgestimmt und schließlich verabschiedet – das alles natürlich mit religionspädagogischer Begleitung des Kultusministeriums. So haben wir mittlerweile ein funktionierendes Kurrikulum, und wir haben Lehrer, die schon Erfahrung mit dem Unterricht haben.

Reinbold 
Ist es also nur noch eine Frage der Zeit, bis der Unterricht kommt? Oder gibt es noch irgendwelche Hürden, die das womöglich verhindern könnten?  

Abdel-Rahman 
Eigentlich nicht. Wir haben die feste Zusage seitens des Kultusministeriums. Wir haben alles vorbereitet. Eigentlich wollten wir in diesem Schuljahr starten, aber das war aus organisatorischen Gründen nicht möglich. So wurde der Beginn auf das nächste Schuljahr verschoben.

Reinbold 
Herr Kraft, Frau Abdel-Rahman sagt, die Evaluation des Islamischen Religionsunterrichts sei sehr positiv gewesen. Wird das auch von den evangelischen Religionslehrern und Religionslehrerinnen so wahrgenommen? Verändert ein solcher Unterricht die Stimmung an der Schule womöglich positiv?

Kraft 
Die Kirchen haben den Wunsch nach Islamischem Religionsunterricht stets unterstützt. Sie haben allerdings auch gesagt, dass die gleichen Standards für den Unterricht gelten sollen wie für den Katholischen und den Evangelischen Religionsunterricht, also die rechtlichen Grundlagen nach Artikel 7,3 des Grundgesetzes, die pädagogischen Standards, die Methoden- und Bücherauswahl und dergleichen.

Wir haben den Modellversuch vor einigen Jahren in Loccum evaluiert. Die Auswertung fiel positiv aus. Es zeigte sich, dass dort, wo islamische Religionslehrer und -lehrerinnen in den Schulen den Unterricht gegeben haben, insgesamt das Thema Religionsunterricht aufgewertet worden ist. Der Unterricht hat die eigene Identität der Schülerinnen und Schüler gestärkt. Indirekt hat er auch positive Rückwirkungen für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht gehabt. Wir können den Modellversuch daher nur begrüßen. Wir sind zwar nicht am Ziel, aber ich denke, wir sind auf einem guten Weg.

Reinbold 
Frau Abdel-Rahman, einer der Gründe, warum es bis zur Einführung des ordentlichen Islamischen Religionsunterrichts so lange gedauert hat, ist ein juristischer. Nach Artikel Sieben des Grundgesetzes braucht es für Islamischen Religionsunterricht islamische „Religionsgemeinschaften“. Die islamischen Verbände aber sind aus verschiedenen Gründen keine „Religionsgemeinschaften“, sagt der Staat. Was also tun? Inzwischen hat man ein Modell gefunden, das juristische Problem zu lösen. Man hat einen Beirat gegründet. Wie sieht das Modell aus? 

Abdel-Rahman 
Der Beirat setzt sich zusammen aus vier Mitgliedern, je zwei Mitglieder der Schura, des Landesverbandes der Muslime, und zwei Mitglieder der Türkisch-Islamischen Union DITIB. In Niedersachsen war es relativ leicht, den Beirat zu besetzen, weil DITIB und Schura für relativ viele organisierte Muslime in Niedersachsen sprechen. In Nordrhein-Westfalen ist das komplizierter, ich denke, da geht es uns relativ gut.

Dieser Beirat bildet die Brücke zwischen dem Staat und den organisierten Muslimen. Die Beiratsmitglieder sind Theologen oder Religionspädagogen. Sie haben zwei bis drei Hauptaufgaben. Sie erteilen die Lehrerlaubnis für den bekenntnisorientierten Religionsunterricht, wie es auch bei den anderen Religionsgemeinschaften üblich ist. Sie stimmen im Namen der organisierten Muslime über den Lehrplan ab. Und sie sehen sich als Ansprechpartner für die Lehrer. Für die Lehrer ist die Lehrerlaubnis eine Art Zertifizierung auch vor den Eltern und den Moscheegemeinden. Die Lehrerlaubnis zeigt: Ich bin ein Religionslehrer für Islamische Religion, ich habe die Lehrerlaubnis, ich habe die Qualifikation, dass ich unterrichten darf. 

Reinbold 
Herr Kraft, in anderen Bundesländern hat man andere Lösungen gefunden. Wie sehen Sie die niedersächsische Konstruktion? Ist das eine sachgemäße Lösung?

Kraft 
Ich denke, dass es eine Übergangslösung ist. Wir haben die Situation, dass sowohl DITIB als auch Schura in Niedersachsen nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt sind. Deshalb haben wir keinen Religionsunterricht nach Artikel 7,3 des Grundgesetzes. Nordrhein-Westfalen hat einen anderen Weg gewählt. Das Land selbst hat vier Experten benannt, in Rücksprache mit dem Koordinierungsrat der Muslime, und die muslimischen Verbände haben ihrerseits vier Mitglieder benannt. Dieses Modell ist von den Vorgaben des Grundgesetzes weiter entfernt als das niedersächsische, es hat allerdings den Charme, stärker für Pluralität zu sorgen. Frau Abdel-Rahman, Sie sagen selbst, Sie sprechen von den „organisierten Muslimen“. In Deutschland sind vielleicht 20 bis 25 % der Muslime organisiert. Da stellt sich natürlich immer die Frage: Wen spiegeln die Verbände wider? Der Islam hat keine staatskirchlichen Strukturen, die Lage ist mit der der Kirchen nicht ganz vergleichbar. Da sind Übergangslösungen in der jetzigen Situation der einzige und der beste Weg.

Reinbold
Lassen Sie uns zu den Inhalten kommen. Frau Abdel-Rahman, alle sagen, Islamischer Religionsunterricht ist etwas anderes als die Koranschule. Die Koranschule ist im Islam ganz üblich. Religionsunterricht, so wie wir ihn haben, ist in islamisch geprägten Ländern nicht üblich. Was sollen die Kinder lernen im Islamischen Religionsunterricht?  

Abdel-Rahman 
Ich möchte mich gern beschränken auf die Koranschulen, wie wir sie hier in Deutschland kennen. Die Koranschule ist tatsächlich anders als wir das in der Schule vorsehen. Ich persönlich bin der Ansicht, dass nicht das eine das andere ersetzt, sondern dass beide sich gegenseitig ergänzen können und sollten. Das wird auch, denke ich, in der Zukunft so sein.

In der Schule haben wir einen Bildungsauftrag, wie in allen anderen Fächern auch. Es geht nicht nur darum, einen Inhalt zu lernen, sondern auch, mich zu diesem Inhalt in Beziehung zu setzen, zu reflektieren, danach zu fragen, vielleicht jemandem zu helfen, eine Antwort zu finden, ohne ihm die Antwort vorzugeben. Das ist auch im Religionsunterricht so.

Das Kernkurrikulum für den Religionsunterricht ist gekennzeichnet von einer Didaktik des Fragens und nicht von einer Didaktik der vorgegebenen Antworten. Das heißt, man fragt danach: Welche Rolle spiele ich als Mensch in dieser Welt? Welche Rolle spielt Gott in dieser Welt für mich und wie beeinflusst das mein Handeln, meinen Glauben? Welche Rolle spielen andere Religionen in meiner Gesellschaft? Was bedeuten Inhalte aus Koran und Sunna für mich? Welche Verantwortung habe ich als Mensch? Wie wichtig sind die Propheten in meiner Religion für mich? Was bedeuten sie in meinem Leben? Was kann ich aus deren Vorbildwirkung für mich ableiten?

Im Unterricht in den Moscheen lernen die Schüler beispielsweise die arabische Sprache. Das ist eigentlich eine sehr wichtige Voraussetzung, um als Muslim zu leben, und ich bedauere auch ein bisschen, dass wir die Grundregeln des Arabischen nicht ins Kernkurrikulum aufgenommen haben, weil ja auch für das Gebet ein wenig Arabisch notwendig ist. Aber wie dem auch sei: Sie lernen Arabisch, sie lernen den Koran zu rezitieren und auch Stücke aus dem Koran auswendig, um das Gebet vollziehen zu können. In der Schule dagegen sieht man sich zum Beispiel einen Vers aus dem Koran an, lernt ihn vielleicht, fragt aber vor allem nach: Was bedeutet das für mich? Die Schüler sollen angeleitet werden, Fragen zu stellen und den Inhalt zu ihrem Leben in Beziehung zu setzen.

Reinbold 
Herr Kraft, Sie haben vor vielen Jahren in Berlin an einem ersten Entwurf mitgearbeitet und Sie haben in einer Publikation einmal geschrieben, dass es damals scheiterte, weil man die islamischen Anforderungen auf der einen Seite und die pädagogischen Anforderungen der deutschen Schule auf der anderen Seite nicht zusammenbrachte. Woran genau ist es damals gescheitert?

Kraft
Es gab damals in Berlin und gibt immer noch die islamische Förderation, die als einziger islamischer Verband nach dem Berliner Gesetz islamischen Religionsunterricht geben darf. In der Zeit, in der die konzeptionellen Vorbereitungen für diesen Unterricht erfolgt sind, hat mir die islamische Föderation seinerzeit ihre Vorarbeiten gezeigt, und ich durfte einen kritischen Blick darauf werfen. Wir haben den Entwurf dann mit alten Plänen aus dem deutschen Religionsunterricht verglichen und dabei entdeckt, dass der Plan der Föderation sehr stark den Plänen des Evangelischen Religionsunterrichtes der 50er Jahre ähnelte. Es war ein reiner Stoffplan ohne pädagogische Grundlegungen. Danach hat sich die Föderation Hilfe von außen geholt, vom internationalen Institut für Pädagogik und Didaktik in Köln, wenn ich mich recht erinnere.

Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches zu den Plänen sagen. Es gibt eine hervorragende Studie von Irka-Christin Mohr, die die ersten Pläne der Muslime für islamischen Religionsunterricht in Europa untersucht hat. Der Grundtenor Ihrer Überblicksdarstellung ist, dass die erste Generation der Lehrpläne für islamischen Religionsunterricht die Hauptfunktion einer Selbstverständigung hatte: Wie definieren wir Muslime uns unter den Bedingungen europäischer Gesellschaften? Was ist für uns eigentlich das Zentrale und Wichtige? Wie führen wir uns selber zusammen? Die Frage, wie man eigentlich das, was einem wichtig ist, im schulischen Kontext vermitteln kann, stand in zweiter Hinsicht.

In Niedersachsen haben wir jetzt die zweite Generation eines islamischen Lehrplanes, bei der sich genau diese Entwicklung feststellen lässt. Das erste Kurrikulum war viel stärker inhalts- und stofforientiert als das zweite. Wenn ich mir das neue Kernkurrikulum für den Islamischen Religionsunterricht ansehe, entdecke ich viele Parallelen zu den Kurrikula des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, obwohl ich durchaus einige kritische Fragen an das islamische Kurrikulum habe. 

Reinbold
Frau Abdel-Rahman, es gibt in der neueren Debatte einige kritische Stimmen, die sagen: Trotz aller Fortschritte in den Kurrikula hat sich im Grunde an dieser 50er-Jahre-Mentalität des Islamischen Religionsunterrichts nichts geändert. Immer noch geht es um Stoffvermittlung, immer noch sprechen die Lehrer von „Wir Muslime“ und bringen den Schülern bei, was sie tun sollen. Also: Wir Muslime machen das so und so. Wir stellen uns beim Beten so und so hin. Wir Muslime beten fünf Mal am Tag. Wir fasten dann und dann. Reflexion, so diese Kritiker, findet kaum je statt. Was sagen Sie zu dieser Kritik? 

Abdel-Rahman
Das ist eine sehr interessante Frage. Ich denke, wenn man sich den Islamischen Religionsunterricht in der Praxis ansieht, merkt man, dass das so gar nicht geht. Die Schülerschaft ist sehr heterogen. Die Schüler und Schülerinnen haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe, unterschiedliche sprachliche Fähigkeiten, unterschiedliches religiöses Vorwissen, unter Umständen auch unterschiedliche Konfessionen, einige sind Sunniten, andere Schiiten, zum Beispiel. Da kann man gar nicht so unterrichten.

Letzte Woche zum Beispiel gab es in meiner Klasse einen Disput zwischen einer arabisch geprägten Schülerin und einem türkisch geprägten Schüler, beide 7 Jahre alt. Sie haben darüber diskutiert, ob es nun „Salam aleikum“ heißt oder „Selam aleikum“, wie es die Türken sagen. Das war für die Kinder ein wirklich ernsthaftes Problem. An diesem kleinen Beispiel sieht man schon, dass es nicht so einseitig geht, dass man sagt: „Wir Muslime“. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Elemente, die alle Muslime betreffen. Das Gebet fünfmal am Tag z.B., das ist ein verbindendes Element.

Reinbold 
Herr Kraft, wie ist das heute eigentlich im Evangelischen Religionsunterricht? Gibt es da so etwas, dass die Lehrer in die Klassen gehen und sagen: Das christliche Glaubensbekenntnis geht so und so. Wenn wir beten, stellen wir uns so und so hin. Spielen solche Elemente eine Rolle oder ist das alles 50er Jahre und lange vorbei?

Kraft 
Wenn man zehn Jahre Religionsunterricht hatte und hinterher auch das Glaubenbekenntnis kennt, dann ist das sicherlich keine falsche Sache. Es gibt zwei didaktische Ansätze in der aktuellen Diskussion, die versuchen, das aufzunehmen. Das eine ist die Kinder- und Jugendtheologie, und das andere ist die performative Didaktik.

Bei der Kinder- und Jugendtheologie geht es darum, welche Theologie für Kinder und Jugendliche wir brauchen. Aber wir sagen: Kinder und Jugendliche sind Theologen, und in diesem Zwischenspiel von Theologisieren mit Kindern, Theologie für Kinder und Theologie der Kinder, da spielt sich das ab, was ich Vermittlung und Aneignung theologischen Wissens nennen würde.

Das andere ist die performative Didaktik. Sie setzt einen anderen Akzent und stellt die Frage, ob man eigentlich Religion angemessen verstehen kann, wenn man selbst keine Praxiserfahrung mit Religion hat. Inwieweit muss, wenn ich Religion als ein ganzes sehe, auch die Praxis der Religion ansatzweise im Religionsunterricht vorkommen, unter den besonderen schulischen Bedingungen? Da hat die performative Didaktik durchaus Elemente ins Spiel gebracht wie etwa Gespräche über das Gebet. Es geht dabei aber nicht darum, Gebetübungen abzuhalten, damit ich ein guter Christ wäre. Sondern es geht darum zu verstehen, was das Gebet für Christen bedeutet. Es geht darum, Praxiserfahrungen zu machen, die hinterher sofort wieder reflektiert werden. In diesem Zwischenspiel von Annehmen und Distanz, von Praxis und Reflektion, spielt sich Religionsunterricht ab. 

Reinbold 
Frau Abdel-Rahman, Sie haben gesagt, dass die Lehrer und Lehrerinnen zu Beginn ihre losen Blattsammlungen hatten und dass jeder sich seinen Inhalt selbst zusammenstricken musste. Inzwischen gibt es Bücher und einen heftigen Streit um die Frage, was eigentlich drinstehen muss in so einem islamischen Religionsbuch. Eines der ersten Bücher, das geschrieben wurde, trägt den Titel „Saphir“. Einer der islamischen Verbände, die Milli Görüş, hat das Buch bei Erscheinen scharf kritisiert, ich zitiere das einmal: „Das Buch widerspricht dem Selbstverständnis und den Erziehungszielen der muslimischen Religionsgemeinschaften zum Teil erheblich“, es ist für den Unterricht „ungeeignet“. Kritisiert hat der Verband insbesondere, dass das Buch über den Islam informiert und reflektiert, dass es etwa beim Gebet aber nicht sagt: Wir Muslime beten so und so. Sondern der erste Satz in diesem Buch zum Thema „Gebet“ lautet etwa: „Manche Menschen beten zu Gott, vielleicht auch Du“. Die Kritik sagt: So etwas geht nicht, man muss den Kinder doch das Gebet beibringen! Ist das eine in der muslimischen Gemeinschaft verbreitete Meinung?

Abdel-Rahman 
Ich habe das Buch auch mit meinen Studenten diskutiert. Der Student, der über das Buch referiert hat, hat sinngemäß gesagt: Es ist ein sehr gutes Ethikbuch, aber es reicht nicht, wenn man die entsprechenden ethischen Stellen mit einem bisschen Koran und Hadith schmückt. Ich persönlich teile diese Kritik. Ich halte dieses Buch für ein ausgezeichnetes pädagogisches Buch und für ein Buch, das sehr nah an den Schülern ist. Man merkt die Erfahrung der Autoren im Umgang mit muslimischen Schülern. Aber auch mir ist die religiöse Gewichtung zu schwach.

Ich persönlich habe das Empfinden, dass das auch ein bisschen mit der Situation des Islamunterrichts in Nordrhein-Westfalen und generell in Deutschland zu tun hat. Als das Buch entstanden ist, war überall die Rede davon, dass wir einen bekenntnisorientierten Islamunterricht einführen. Aber wir hatten ihn nirgends, sondern wir hatten islamkundlichen Unterricht, d.h. einen Unterricht, der über die Religion informiert. Nun ist es für einen Schulbuchautor extrem schwer, ein Buch zu schreiben, wenn er nicht so genau weiß, ob es nun bekenntnisorientiert oder islamkundlich sein soll. Wenn ich recht sehe, haben sich die Autoren bemüht, beiden Ansprüchen gerecht zu werden. Das geht aber meines Erachtens religionspädagogisch nicht. Für einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht ist es nicht ausreichend.

Reinbold 
Die Autoren und Autorinnen haben die Kritik seinerzeit scharf zurückgewiesen und dem Verband Milli Görüş vorgeworfen, dass er im Grunde gar nicht wisse, was eine deutsche Schule ist. Der Islamunterricht, wie er gefordert werde, sei eine Art „Indoktrinationsunterricht“, hieß es.

Abdel-Rahman 
Es gibt ein Beispiel in einem dieser Bände, an dem man das Problem sehr gut erkennen kann. An einer Stelle geht es um den Ramadan. Da ist ein Dialog abgebildet zwischen einem muslimischen Geistlichen, einem Imam, und einem jungen Menschen. Sie diskutieren darüber, ob er im Ramadan fasten muss. Die ganze Geschichte dreht sich nur darum: Eigentlich ist es vorgeschrieben, du müsstest fasten im Islam. Aber wenn du es nicht schaffst, dann faste halt nicht. Aber eigentlich ist es Pflicht. Aber wenn du es nicht hinbekommst, dann faste halt nicht. Am Ende dieses Textes ist man nicht schlauer.

Ich persönlich fände es besser, wenn man sagt: Das Fasten ist im Islam Pflicht. Aber wenn du diese und jene Bedingungen hast, die es dir erschweren, dann müssen wir fragen: Wie kannst du damit umgehen? Welche Möglichkeiten hast du im Islam, diese Pflicht auszufüllen? Unter welchen Bedingungen darfst du diese Pflicht verschieben? Wir haben ja Handwerkszeug im Islam, das uns anbietet, in bestimmten Situationen nicht zu fasten. Ich würde es so machen. Das ist besser als dieses Lavieren: Ja, es ist Pflicht, aber wenn du es nicht schaffst, versuche es halt später. Es ist nicht ganz ehrlich in meinen Augen. Das Fasten im Ramadan ist einer der grundlegenden Gottesdienste. Das darf man meines Erachtens nicht klein reden. Natürlich kann es ein Problem sein, als Jugendlicher so lange Zeit zu fasten und dann eine Klassenarbeit zu schreiben. Aber in meinen Augen müsste man dann sehr viel sauberer argumentieren.

Reinbold 
Herr Kraft, Sie haben in einer Publikation davon gesprochen, der Schulversuch in Niedersachsen habe „religionspolitische Bedeutung“. Es sei offenkundig, dass der Staat gewissermaßen die Muslime erziehen wolle durch den Religionsunterricht. Sind Sie der Meinung, dass der Staat sich unzulässigerweise einmischt in die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften?

Kraft 
Religionsunterricht hat immer eine zivilreligiöse Funktion. Wir alle kennen das schöne Zitat von Böckenförde: „Der Staat lebt von Grundlagen, die er selbst nicht schaffen kann.“ Deshalb ist es ihm wichtig, dass es religiöse Erziehung gibt, dass Menschen über ihre Religion etwas erfahren können, dass sie ein Wertbewusstsein bekommen, das auch religiös fundiert ist. Von daher ist es alles andere als uninteressant, welches Wertbewusstsein aus welchem Unterricht entsteht, und von daher muss die Gesellschaft ein großes Interesse am Religionsunterricht und seinen Wirkungen haben.

Diese zivilreligiöse Funktion hat der Evangelische und Katholische Religionsunterricht und selbstverständlich auch der Islamische Religionsunterricht. Er dient nicht nur der Glaubenstradierung oder sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche für ihren Glauben eine Sprache finden, sondern er hat eine gesellschaftliche Bedeutung. Er trägt dazu bei, dass Menschen friedlich in dieser Gesellschaft zusammen leben, er trägt dazu bei, dass die Grundwerte, die diese Gesellschaft zusammenhalten, auch von den jeweiligen religiösen Traditionen begründet und gelebt werden können. Deshalb hat Islamischer Religionsunterricht natürlich eine politische Bedeutung. Die Frage, ob der Islam in Gänze in Deutschland angekommen ist, ist ja eine offene Frage. Wir haben parallelgesellschaftliche Strukturen nicht nur in Neukölln, sondern auch in anderen Quartieren in Deutschland. Wie Muslime ihr zu Hause finden in diesem Staat, ist noch nicht zur Gänze ausgemacht. Wenn der Islamische Religionsunterricht einen Beitrag dazu leisten kann, dass auch muslimische Kinder und Jugendliche hier leichter ihren Platz finden, dann ist das eine großartige Sache.