Mitschrift: Kehrt der offene Antisemitismus zurück? (Teil 2)

Zum Gespräch: „Du Juden Nazi!" - Kehrt der offene Antisemitismus zurück?“


Muslime dürfen mit Juden nichts zu tun haben – stimmt das?

Reinbold 
Das entspricht ziemlich genau dem, was Sie beschrieben haben, Herr Sukhni.

Sukhni 
Man darf nicht vergessen, dass die meisten Muslime – auch diese jungen Leute jetzt, die sich ja relativ positiv geäußert haben –, dass die meisten Muslime gar keinen Kontakt zu Juden haben. Es gibt keinen Kontakt, keinen direkten Kontakt. Die meisten Muslime denken, wenn sie an den Davidstern denken, an die israelische Flagge. Wenn sie hebräische Schriftzeichen sehen, assoziieren sie damit das israelische Staatsfernsehen und die israelische Berichterstattung mit. Hebräische Schrift, der Davidstern, all die jüdische Symbolik, würde ich sagen, ist vom Staat Israel komplett vereinnahmt worden, und das lässt es nicht zu, dass man Juden und Judentum trennt vom dem Politischen in Israel. Das ist eigentlich ein Fehler. Alles, was Israel tut, was man kritisiert, steht unter dem Zeichen des Davidsterns, der für das Judentum nun einmal steht. Deswegen denken Muslime hier in Deutschland, wenn sie an Judentum denken und an den Davidstern, unterbewusst immer an die israelische Flagge, den Staat Israel, und so weiter. 

Reinbold 
… die Gegendemonstrationen, auf denen Israel-Fahnen hoch gehalten werden, füttern dieses Bild immer wieder aufs Neue …  

Sukhni 
Ich kenne viele Juden und viele Israelis, auch Linke, die natürlich kritisch sind. Nicht alle Israelis haben die Regierung gewählt. Aber das wissen die Jugendlichen nicht, die keinen Kontakt zu Juden haben. Die gehen auf eine Demo und sehen am Straßenrand Leute mit der israelischen Fahne stehen. 

Reinbold 
Bevor Frau Wettberg von den Erfahrungen in der Synagoge berichtet, will ich noch einen Punkt ansprechen. Der eine Jugendliche im Film sagt, er dürfe sich Juden nicht nähern. Was steckt da dahinter, und ist das typisch? 

Sukhni 
Wenn man die Primärquellen des Islams heranzieht, wird man feststellen, dass der Kontakt zu Juden natürlich erlaubt ist. Allein schon die Tatsache, dass man eine jüdische Frau heiraten darf, bezeugt das ja. Wie kann ein Moslem mit einer jüdischen Frau verheiratet sein, wenn er sie hasst? 

Reinbold 
Aber es gibt dieses berühmte Wort aus dem Koran, das dann gern zitiert wird, etwa so: „macht euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden“ [Sure 5,51].

Sukhni 
Wenn man sich einzelne Stellen im Koran anschaut, dann wird man genau das, was wir heute diskutieren, feststellen.

Es gibt die Juden als religiöse Gruppe, als religiöse Volksgruppe. Im Islam gibt es Überlieferungen, wie wir zu den Juden als Religionsgruppe stehen. Wie gesagt: man darf untereinander heiraten, man darf essen, was die Juden essen, das heißt, der Kontakt ist natürlich erlaubt. Ich kann nicht Antisemit sein und mit einer jüdischen Frau verheiratet sein.

Dann gibt es die Stellen im Koran, die politische Konfliktsituationen dokumentieren, die es zu Mohammeds Zeiten gab. Es gab politische Konflikte schon in Medina zwischen Juden und Muslimen. Das ist bekannt und nichts, was man leugnet. Der Koran spricht diese politischen Konflikte an. All die Stellen, an denen es darum geht, dass man sich nicht anfreunden soll, dass man kämpfen soll, dass man dies und das tun soll, sind im Kontext des Krieges zu verstehen – eines Krieges, den diese Verse auch beschreiben. Leider haben wir oft den Fall, dass Leute diese Verse aus dem Koran nehmen und dann sagen: „Ah, ihr Muslime bekämpft die Juden und Christen!“ Sie lassen aber die Verse außer Acht, in denen respektvoller gesprochen wird. 

Reinbold
Wenn jemand also zu Hause lernt: „Als Muslim darf ich mich mit Juden nicht anfreunden“ – dann ist das Ihrer Meinung nach islamisch völlig falsch?

Sukhni 
Absolut falsch. Die Primärquellen sagen etwas ganz anderes. Ein Beispiel, das wir auch gern den Schülern und den Jüngeren erzählen: Es gab eine Situation im Leben des Propheten Mohammed, da ist ein Trauerzug an ihm vorbei gezogen. Der Prophet stand auf für diesen Trauerzug. Einer, der bei ihm saß, sagte: „Der Tote war doch gar kein Moslem, sondern ein Jude.“ Der Prophet Mohammed sagte: „Und ist das keine Menschenseele?“ Der Prophet selbst ist aufgestanden aus Respekt vor ihm. Das zeigt ja schon, dass es das nicht geben darf, diese Respektlosigkeit, auch nicht vor den Verstorbenen der Juden. 

Reinbold 
Frau Wettberg, ich hatte Sie vorhin unterbrochen. Sie wollten von den Erfahrungen erzählen, die Sie in der Synagoge machen, wenn Schülerklassen kommen. Was erleben Sie da? 

Wettberg 
Wir gehen in die Synagoge, um die Tora-Rolle zu zeigen, um Vieles zu erklären. Es werden viele Fragen gestellt. Immer wieder gibt es muslimische Schüler und Schülerinnen, die dann sagen, dass sie lieber in unserem Cafébereich unten bleiben oder sich irgendwo hinsetzen wollen. Sie dürfen die Synagoge nicht betreten, sagen sie. Warum nicht? Weil sie es verboten bekommen haben, von ihren Eltern oder ich weiß nicht von wem. Ich verstehe es nicht. So kann keine Verständigung entstehen, so kann keine Information herüberkommen.
 

Arabische Fernsehsender schüren den Hass auf Juden

Natürlich sind Kinder abhängig von dem, was sie zu Hause hören und sehen. Und da habe ich die Sorge, dass über die Satelliten-Schüsseln, die jeder an seinem Balkon hängen hat, viele Fernsehsender den ganzen Tag lang gehört und gesehen werden, Al Dschasira oder K5 oder wie die alle heißen. Da gibt es schon heftige Sendungen.

Ich darf vielleicht einmal vorlesen, was ich aus dem Spiegel ausgeschnitten habe, vom 28.7.2014. Da geht es um eine Fernsehsendung mit kleinen Kindergartenkindern, mit Vier- und Fünfjährigen. „Sag mein Freund, sind Juden in deiner Nähe?“, fragt da einer, es ist eine Art Geburtstagsfeier in diesem Kinderfunk. „Nein im Moment nicht“, sagt das Kind. „Wenn sie kommen, dann schlag sie. Mache ihr Gesicht rot wie eine Tomate“, sagt der Andere. Dann kommt eine Kindergärtnerin. Sie fragt ein drei- bis vierjähriges Kind. „Was willst du eigentlich werden?“ Das Kind antwortet: „Ich will dasselbe wie mein Onkel werden.“ „Und was ist der?“ „Der ist Polizist. Er fängt Diebe“, erklärt das Kind und fügt hinzu: „er erschießt Juden.“ Darauf der Frager: „Und du willst wie er sein?“ „Ja“, antwortet das Mädchen, „damit ich Juden erschießen kann.“ Die Kinder sind drei bis vier Jahre alt. Logisch, dass so etwas prägt.

Sukhni 
Das sind Aufnahmen wahrscheinlich aus Palästina … 

Reinbold 
Der Spiegelartikel sagt: Al-Aqsa-TV. 

Sukhni 
Man darf nicht vergessen, dass die Menschen sich dort in einem Krieg oder Konflikt befinden mit Israel …

Wettberg 
… das ist auch in Deutschland zu sehen, „von Gaza bis Gelsenkirchen“, sagt der Spiegel.

Sukhni 
Die Dreharbeiten finden statt in einem Land mit einer Bevölkerung, die sich im Konflikt, im Krieg befindet, auch im ideologischen Konflikt und Krieg. Da gibt es natürlich Gruppen, die ihren Kindern radikale Ansichten anerziehen. Auf der anderen Seite haben wir das auch. Wir haben ja genauso ultraorthodoxe, rechtsorientierte jüdische Gruppen in Israel, die einen Hass gegen Araber schüren. Wenn wir jetzt damit anfangen, dem anderen vorzuhalten, was die andere Seite an Hass schürt, dann können wir stundenlang Dinge auspacken, wie heftig die Propaganda auf beiden Seiten ist. Das bringt nichts. 

Wettberg 
Es wird aber nach Deutschland reingetragen. Das ist meine Sorge. Die muslimischen Kinder – ich mache diesen Kindern und Jugendlichen überhaupt keine Vorwürfe – sehen es und hören es. Ich frage mich, was sie zu Hause hören und sehen in ihren Familien. Was wird dort gesprochen? Wie Sie schon sagten: Es gibt keine Begegnung, und das ist sehr schade. Wir hören auch von unseren Kindern und Jugendlichen aus den Schulen, dass sie es meistenteils vermeiden zu sagen, dass sie Juden sind, weil sie Angst haben.

 

Viele wissen nicht, wie viel Juden und Muslime gemeinsam haben

Sukhni 
Ja, das habe ich auch schon gehört. Das ist sehr traurig. Viele Muslime sind total überrascht, wie viele Parallelen wir mit dem Judentum haben. Während der Beschneidungsdebatte gab es eine starke Solidarität zwischen Juden und Muslimen. Ich hätte mir gewünscht, dass man an dieser Stelle weiter arbeitet. Auch in der Frage der Urteile zum Schächten von Tieren.

Wir waren in der letzten Woche mit einigen unserer Studenten in Jerusalem. Wir haben viele muslimische Studenten und Studentinnen dabei, die noch nie Kontakt zu Juden hatten. Mit denen sind wir an die Klagemauer gegangen. Das war ihr erster Kontakt mit Juden. Sie alle haben das Gefühl von Nähe empfunden zu den Juden, die dort ihre Religion praktiziert haben, eine spirituelle Nähe. Natürlich war klar: das ist deren Religion, und wir haben unsere Religion. Aber trotzdem hat man respektiert und irgendwie auch bewundert, was da an Religiosität sichtbar wurde. Unsere Studenten standen ziemlich lange da und haben sich das angesehen. Sie haben Fragen gestellt wie: Warum ziehen sie das an, warum haben sie dies? Sie waren sehr interessiert an einem Dialog und waren interessiert daran zu verstehen, was die Juden da tun.

Das hat mir gezeigt: Es besteht ein starkes Interesse daran, das Judentum und die Juden zu verstehen. Aber es gibt keine Berührungspunkte in Deutschland und keinen Kontakt. Der einzige Kontakt, den man dann einmal hat, ist der über die Medien. Und da entsteht, wie schon gesagt, immer das Bild, dass Juden kollektiv und uneingeschränkt hinter dem Staat Israel stehen, egal was er tut. Die Leute können nicht trennen zwischen dem Judentum als Religion und dem Judentum als Teil des Staates Israel. 

Reinbold 
Wir sind jetzt wieder bei dem Grundproblem gelandet, das wir eben schon diskutiert haben. Ich selbst habe das auch schon häufig gehört und miterlebt: Wenn Muslime und Juden sich auf religiöser Basis begegnen, entsteht zunächst ein Moment der Verblüffung und dann oft eine große Vertrautheit. Die Muslime sagen dann oft: „Ich hätte das nie gedacht. Das ist ja wie bei uns!“ Kennen Sie das auch aus der Synagoge, Frau Wettberg? 

Wir haben auch schon muslimische Schüler gehabt, die – nachdem sie zuerst natürlich nicht wollten, sie sind 13, 14 Jahre alt und sagen, dass sie Null Bock haben, „was soll ich hier?“ und so –, die dann aber immer ruhiger wurden und schließlich Fragen gestellt haben. Und die dann festgestellt haben: „Ach, da gibt es ja eine ganze Menge Parallelen!“

Ich denke, dass es vor allem eine Bildungsfrage ist, eine Informationsfrage. Natürlich müsste es schon in den Elternhäusern eine andere Information geben. Viele sprechen nur von „Clan“ und „Ehre“, das Wort „Sexualität“ darf man ja gar nicht mehr in den Mund nehmen, es müsste mehr Aufklärung von muslimischer Seite von den Elternhäusern kommen. 

Sukhni 
Da vermischen Sie zwei verschiedene Fragen miteinander. Die politische Positionierung hat ja nichts zu tun mit der Aufklärung oder mit der Religiosität. 

Wettberg 
Doch, das hat etwas miteinander zu tun. Muslimische Jugendliche haben Werte, die aber andere sind als die, die wir hier haben. Deswegen sagte ich das eben. Von der Gleichberechtigung der Frau und von einer Demokratie sind sie weit entfernt.  

Sukhni 
Ich sehe, dass da jetzt Dinge miteinander vermischt werden, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt. Wenn wir verallgemeinernd davon sprechen, dass es das gibt bei den Muslimen, und dies bei den Muslimen nicht, dann packen wir alle in eine Schublade und machen die Schublade zu. Ich würde das so nicht unterschreiben, zumal es auch nichts zu tun hat mit der Problematik, über die wir sprechen.

Die Gruppe, die in dem ganzen Konflikt zu kurz kommt, sind die palästinensischen Christen. Die palästinensischen Christen sind keine Muslime. Die auffälligen Gruppen in den 70er Jahren, die mit Terror und Flugzeugentführungen und all dem gearbeitet haben, waren kommunistisch orientierte Gruppen, deren Anhänger meistens christlich sozialisierte Palästinenser waren. Sie kamen aus einem christlichen Haushalt. Sie waren selber nicht gläubig, weil sie sich dem Kommunismus hingegeben hatten, die PFLP und all diese Gruppen. Auch das Attentat in München bei den Olympischen Spielen 1972 ist aus einem sozialistisch-kommunistischen Milieu organisiert worden. Sie alle kamen nicht aus einem islamisch sozialisierten Haushalt. Es sind Nichtmuslime gewesen, aus einem christlichen Haushalt, areligiös die meisten. George Habash, der Gründer der PFLP, war Christ.

Wir machen es uns zu einfach, wenn wir sagen: „Das ist ein Konflikt Islam gegen Judentum.“ Das wird der Sache nicht gerecht. Es geht hier nicht um Islam gegen Judentum. Es geht um Land, um Besatzung – eine Besatzung, die, wie Sie wissen, seit 1967 an der Westbank und in Gaza herrscht. Man muss es darauf reduzieren, ganz einfach. Es ist eine politische Frage um Land und Souveränität der Völker. Es geht hier nicht um Islam gegen Judentum.

Wettberg 
Ja. Aber Sie sind schon wieder auf der politischen Ebene …
 

Ist der Islam in seinem Kern anti-rassistisch?

Reinbold 
Ich zitiere einmal den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Er hat zu den Demonstrationen gesagt, es gäbe „vereinzelt“ antisemitische Muslime, aber der Islam selbst sei in seiner Geisteshaltung insgesamt „antirassistisch“. Würden Sie das auch so sagen? 

Sukhni 
Hundertprozentig! Ich habe ja schon erwähnt, dass der Koran gewisse Regeln im Umgang mit Juden und Christen vorgibt. Juden und Christen werden im Koran ja namentlich erwähnt. 

Reinbold 
Nun würden viele aber sagen: „Gut, wir glauben Ihnen das. Und wir wissen, dass es diese Position im Islam gibt. Aber politisch wird das doch gar nicht sichtbar, oder?“

Sukhni 
Auch in der Geschichte sieht man das. Nehmen wir einmal das Traumbeispiel, von dem auch Juden gerne sprechen: die Zeit in Andalusien. Die islamische Herrschaft in Andalusien war eine Blütezeit der islamisch-jüdischen Tradition. Viele Juden haben es zu hohen politischen Posten geschafft unter islamischer Herrschaft in Andalusien. Dasselbe auch in Bagdad, unter islamischer Herrschaft. In Bagdad kamen Juden zu hohen Positionen in der Wissenschaft, in der Philosophie.

Reinbold 
Ich will einmal dagegen halten und sagen: Gut, das ist jetzt lange her. So ging es bis zum Jahr 1492. Wenn ich aber heute mit Sozialarbeitern rede, die viel mit muslimischen Jugendlichen zu tun haben, dann sagen die mir manchmal. „Du glaubst gar nicht, was da in den Köpfen ist. Massive antisemitische Vorurteile! Bis hin zu Dingen wie: ‚Coca Cola gehört den Juden, und McDonalds ist auch jüdisch. Im Grunde die gesamte amerikanische Finanzelite: alles jüdisch!‘“. Es hilft doch nichts, wenn muslimische Verbände diese Realität zur Seite wischen.

Sukhni 
Muslime erinnern gern an diese Zeit, um den eigenen Leuten klar zu machen, dass wir vernünftig miteinander leben konnten. Das ist der Punkt. Das ist gelebte Geschichte. Muslime und Juden haben nicht ständig im Konflikt gelebt. Natürlich gab es Konflikte. Das allgemeine Leben zwischen Juden und Muslimen aber war so, dass die Juden, als sie in Andalusien nicht mehr leben durften, in die islamischen Länder geflohen sind, weil es ihnen dort besser ging. 

Reinbold 
Alles wunderbar, aber lange her …

Sukhni 
Was wir heute haben, ist eine andere Realität. Sie fängt damit an, dass die islamische Herrschaft im Jahr 1924 untergegangen ist – die letzte Dynastie war das Osmanische Reich – und dass die zionistischen Bestrebungen in Palästina begonnen haben, angefangen mit der Balfour-Deklaration, also dem Versprechen der Briten an die Juden, dass sie in Palästina eine nationale Heimstätte errichten dürfen.

Da haben die Araber angefangen, diese Theorien zu entwickeln: „Aha, die Juden wollen uns unser Land wegnehmen. Ah, die Juden wollen uns unser Land rauben. Die Juden wollen das und wollen dies.“ Mit Beginn dieser Phase nach dem ersten Weltkrieg und mit dieser Deklaration aus England begann eine Kampagne gegen die Einwanderung von Juden. Es wurden antisemitische Schriften aus Europa übernommen.
 

Was können wir tun gegen Antisemitismus? (2)

Reinbold 
Sie sagen: „Das ist ein relativ neues Phänomen, und Europäer hatten großen Einfluss darauf“. In Ordnung. Aber heute ist es doch ein Problem. Gibt es auf muslimischer Seite Arbeit gegen diese antisemitischen Klischees wie jüdische Weltherrschaft, jüdische Weltverschwörung, Coca-Cola gehört den Juden?

Sukhni 
Wir haben einige Kollegen, die das intensiv bearbeiten. Einer war auch hier bei Ihnen, Moussa Diaw. Er engagiert sich bei der Muslim-Jewish-Conference. Es gibt Organisationen, die versuchen, miteinander etwas zu erreichen. Wenn wir unterrichten, wenn wir an die Schulen gehen, wenn wir Workshops halten mit Muslimen, ist das oft ein Thema: der Umgang mit Juden, die Stellung der Juden im Islam, oder allgemein die Stellung der anderen Religionen im Islam, und all dies. Die meisten sind überrascht. Sie kennen das nicht, sie kennen meist nur das Politische. Es gibt viel Arbeit. Man versucht irgendwie etwas zu tun. 

Reinbold 
Frau Wettberg, wie erleben Sie das? Dieter Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat im Juli verärgert gesagt: „Es hat zwar mit muslimischen Verbänden Treffen gegeben, auch mit Presseterminen, und man sagt: ‚Wir tun was‘. Wenn ich ehrlich bin, muss ich aber sagen: Man muss diese Beispiele mit der Lupe suchen. Vieles bleibt beim Lippenbekenntnis.“ So etwa hat er sich vor zwei Monaten geäußert. Erleben Sie, dass sich da was bessert? Gibt es Projekte, die Sie wahrnehmen?

Wettberg 
Wir haben etwas sehr Positives erlebt vor kurzer Zeit, das war das Projekt „Rucksackmütter“. Das ist ein Projekt, das vormittags stattfindet, wenn die Kinder in der Schule sind. Dann haben die Mütter ja frei, oder sie haben nur noch ihre kleinen Kinder zu Hause. Diesen Müttern werden verschiedene Aktivitäten angeboten, unter anderem auch eine Führung in der Synagoge.

Zu uns in die Synagoge sind im Rahmen dieses Projekts einmal 20 Muslimas gekommen. Sie hatten überhaupt kein Wissen über Judentum, die jüdische Religion oder über Juden. Gar nichts. Die Gruppe war erst ganz verschüchtert. Dann aber tauten sie auf und sagten: „Das haben wir alles gar nicht gewusst. Das haben wir alles nicht gewusst. Wir werden das jetzt erst einmal zu Hause erzählen, in den Moscheen erzählen. Das muss man wiederholen.“ Deswegen habe ich gesagt: es ist so viel Nichtwissen da. Es ist so unglaublich viel Nichtwissen da. Vielleicht sollte man die Arbeit mit Frauen stärken? Das wäre doch mal was. 

Sukhni 
In Osnabrück gibt es auch Aktivitäten in diese Richtung. Es wird versucht, durch Besuche von Synagogen, Kirchen und Moscheen den Dialog zu fördern. Es gibt diese Versuche. Sie haben ja selbst gesagt, dass es nicht viele Juden in Deutschland gibt. Man sucht dann auch auf muslimischer Seite 

Wettberg 
Ja, wir brauchen Hilfe. Wir schaffen das nicht alleine. Das ist ganz klar. 

Sukhni 
In Berlin gab es eine wunderbare Aktion. Jemand hatte Neukölln zur „No-go-area“ für Juden erklärt. Da gab es eine Aktion von israelischen Juden, also von Israelis, die in Berlin leben, die versucht haben, das Gegenteil zu beweisen. Sie sind auf die Straße in Neukölln gegangen und haben gezeigt, dass sie sehr wohl hier als Juden auftreten können, und zwar mit Muslimen gemeinsam. So etwas ist wichtig, auch um die Geschichten herunterzudrücken, die man erzählt über Araber, die in Neukölln Juden jagen. Es gibt Kooperationen, die von den Juden selbst an die Muslime herangetragen werden, um Vorurteile abzubauen. 

Wettberg 
Ich denke aber, dass die Schulen da noch ein bisschen mehr tun müssten. Die deutsche Geschichte zum Beispiel ist ja muslimischen Schülern vollkommen unbekannt. Die kennen sie von zu Hause nicht, weil die Eltern und die Großeltern und Urgroßeltern sie nicht miterlebt haben. Das ist nicht ihre Geschichte, die deutsche Geschichte. Deshalb ist es wichtig, dass ihnen die deutsche Geschichte in den Schulen stärker nahe gebracht wird. 

Sukhni 
Es muss viel getan werden. Wir reden ja so, als ob es in Deutschland nur ein Problem gäbe mit Antisemitismus. Studien beweisen aber, dass wir ein generelles Problem mit Rassismus haben. Deutschland ist ganz stark betroffen. Es gibt europaweite Studien von der Universität Münster, die zeigen, dass in Deutschland nicht nur Antisemitismus herrscht, sondern auch der stärkste antimuslimische Rassismus in Europa und Ressentiments gegenüber anderen Religionsgruppen, von denen man es nie erwartet hätte.

Dass die Muslime momentan unter antimuslimischem Rassismus leiden, haben wir auch gesehen. Es hat viele Angriffe auf Moscheen gegeben in den letzten Wochen. Die Studie hat aber auch ergeben, dass in den Regionen in Deutschland, wo der Kontakt zu den Muslimen am stärksten ist, weniger Rassismus herrscht. Das zeigt einmal mehr, dass wir Kontakt brauchen. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, mehr Austausch, um Ressentiments abzubauen. 

Reinbold 
Das fügt sich in der Tat zu einem Gesamtbild, auch im Blick auf die Gespräche, die wir bei „Religionen im Gespräch“ bereits geführt haben. Wir hatten Nils Friedrichs zu Gast, der mit Detlef Pollack zusammen die Studie erarbeitet hat, von der Sie sprachen, mit dem Ergebnis: Je mehr Kontakt, desto besser.

Nach dem, was ich heute hier gehört habe, entsteht für mich ein völlig klares Bild: Wir müssten es hinbekommen, dass alle Muslime in ihrer Schulzeit mindestens einmal eine Synagoge besuchen. Und wir müssten die Synagogen so ausrüsten, dass sie diesen Ansturm bewältigen können. Das ist eine große Aufgabe, aber die gesellschaftlichen Aufgaben, die vor uns liegen, sind groß.

Die Hauptschwierigkeit, das haben wir heute wieder gesehen, ist die politische Frage. Muslime wünschen sich, dass jüdische Verbände auch einmal etwas Kritisches sagen, dass sie sich auch einmal mitfühlend mit den Menschen auf der anderen Seite äußern, um die Trennung zwischen dem streng Religiösen und dem Politischen leichter zu machen …

Sukhni
Was bei vielen Muslimen auch wieder Wut ausgelöst hat, ist, dass der Gaza-Konflikt im Zuge der Antisemitismusdebatte in Deutschland in Vergessenheit geraten ist. Viele Muslime sagen das. Sie sagen: „Wir haben den Konflikt in Palästina, in Gaza, in Israel. Und jetzt wird hier eine Kampagne gegen Antisemitismus gestartet.“ Viele beschweren sich darüber, dass die Juden wieder in den Fokus gerückt werden und dass keiner mehr über den Gaza-Konflikt spricht. Das sind Entwicklungen, die total kontraproduktiv sind. Das sorgt dafür, dass wieder Verschwörungstheorien aufkommen, nach der Art: „Die Juden kontrollieren hier die Meinungen.“ Das kommt dann automatisch, und es trägt nicht dazu bei, dass Antisemitismus oder Judenfeindlichkeit abgebaut wird bei den Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund. Es bringt nichts, man erreicht sie nicht mit diesen Kampagnen. 

Wettberg 
Aber ich frage mich, ehrlich gesagt: Als Assad vor zwei oder drei Jahren begonnen hat, sein ganzes Volk abzuschlachten, wo war der Aufschrei hier, wo ist hier etwas passiert? Als diese Boko Haram-Gruppen in Afrika Hunderte von Mädchen zwangsislamisiert haben, wo war der große Aufschrei?

Sukhni 
Aber schauen Sie doch einmal: Sie können doch nicht jahrzehntelange Besatzung gleichsetzen mit einem akuten, aktuellen Konflikt. Bei den muslimischen Jugendlichen und den Muslimen insgesamt haben sich die Dinge über die Jahre hinweg angestaut. Das ist Frust bei den Muslimen, richtiger Frust. 

Reinbold 
Jetzt sind wir schon wieder in der Politik gelandet. Man merkt es sehr deutlich, dass wir zu diesem Thema sehr viel mehr Gespräche brauchen. Es ist ein sehr heikles Thema, und es wird zum Teil in völlig getrennten Milieus diskutiert. Ich glaube, da müssen wir ran. Es ist nicht unbedingt die Aufgabe dieser Reihe, in der die Religion im Zentrum steht und nicht die Politik. Aber das ist eine große Aufgabe der Zukunft.

Ich danke Ihnen beiden für dieses engagierte Gespräch!

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)

Wettberg 
Ja, das wird suggeriert durch diese Bilder. Man muss aber unterscheiden. Also ich persönlich bin Deutsche und Jüdin. Dann gibt es den israelischen Staat. Ich habe eine Menge an der israelischen Politik zu kritisieren. Das ist legitim, das kann jeder tun. Aber ich werde diesen Staat immer verteidigen. Nicht für alles, was er tut. Da muss ich ein bisschen ausholen.

Ich komme aus einer deutschen jüdischen Familie. Ich kann sie bis 1750 hier in Deutschland nachweisen. Da gab es das alles noch nicht dort. Wenn es im Jahr 1933 den Staat Israel gegeben hätte, hätte ich heute noch eine Familie. Aber es gab ihn damals noch nicht. Meine Vorfahren, mein Urgroßvater hat sich freiwillig im Ersten Weltkrieg gemeldet. Er kam hochdekoriert zurück. Er war Deutscher. Er war Deutscher durch und durch. Dann aber, als es darum ging herauszukommen. Was war dann? Dann haben alle zugemacht. Amerika, England, alle haben die Grenzen geschlossen. Meine Familie ist ermordet worden. Nicht, weil sie Verbrecher wären. Sondern weil sie Juden waren.

Im Jahr 1947 hat dann die UN-Vollversammlung beschlossen, den Staat Israel und einen arabischen Staat zu gründen. Die Zionisten haben das angenommen, und sie haben sofort Tausende von staatenlosen Überlebenden des Holocausts aufnehmen können. Zugleich setzte sofort eine Flüchtlingswelle ein. Diese Flüchtlinge sind in den Libanon gegangen, nach Syrien. Sie leben dort in Lagern. Sie leben heute noch in der 3. und 4. Generation in diesen Lagern. 

Sukhni 
Sie meinen die arabischen Flüchtlinge? 

Wettberg 
Ja. In diesen Lagern. Setzen Sie das jetzt einmal um auf Deutschland. Deutschland ist auch nach dem Krieg in neue Grenzen gezwungen worden. Wenn wir diese Grenzen nicht anerkannt hätten und die Flüchtlinge, die aus Ostpreußen und Westpreußen und so weiter hierherkamen, in Lager gepackt hätten und sie da heute noch leben würden? Nein, sie sind in Deutschland integriert worden. Das ist der Unterschied, und das ist der Grund dieses ganzen Dilemmas.

Dieser Staat Israel, der im Laufe seiner Geschichte immer wieder Wellen von verfolgten Juden aufgenommen hat, ob es nun äthiopische Juden waren, iranische Juden oder die Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – dieser Staat Israel ist meine Fluchtburg. Ich will nicht in Israel leben. Es ist mir viel zu heiß dort. Es ist nicht meine Kultur. Aber es ist meine Fluchtburg. So sehe ich dieses Land. Wie gesagt: nicht kritiklos, sondern ich habe eine Menge daran zu kritisieren. Aber vielleicht kommen wir nachher ja noch auf das Politische zu sprechen, da habe ich auch noch Einiges zu sagen. Das ist aber etwas anderes.

 

Das Existenzrecht Israels, der Gazakrieg und die Hamas

Sukhni 
Es geht mir nicht darum, die Juden aufzufordern, zu sagen, dass sie den Staat Israel ablehnen, dass sie sagen, dass er keine Existenzberechtigung hat. Darum geht es nicht. Was Sie jetzt beschrieben haben …

Wettberg 
Das sagen die Palästinenser aber. 

Sukhni 
Natürlich. Aber die Israelis erkennen ja auch keinen palästinensischen Staat an. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber was Sie jetzt erwähnt haben, ist ein Konflikt, der in Europa geherrscht hat. Es gab Flüchtlinge, wie Sie es beschrieben haben, die nach Palästina gingen. Dort ist der jüdische Staat entstanden, und so weiter. Natürlich ist das der Ort, wohin man flüchten konnte. Es war der einzige Ort für Juden, wo sie hinkonnten. Der Staat ist entstanden, und den Staat gibt es. Wir reden jetzt nicht darüber, ob wir die Existenz Israels diskutieren müssten …

Wettberg 
Das macht die Hamas aber. Die Hamas hat in ihren Statuten stehen ... 

Sukhni 
Gut. Die Hamas hat aber oft genug angedeutet, dass sie, wenn Palästina anerkannt wird, würden sie auch die Israelis – aber darum geht es jetzt gar nicht. Der Staat Israel existiert. Es geht nur darum, dass dieser Staat, der momentan von einer stark rechten Partei geführt wird und der auch nicht alle Israelis und Juden repräsentiert, dass dieser Staat zu Maßnahmen gegriffen hat, die man aus meiner Sicht verurteilen sollte und muss.

Es sind über 2.000 Menschen gestorben in Gaza, die meisten sind Zivilisten und Kinder. Dann ist es sehr einfach zu sagen: „Ja, die Hamas ist daran schuld“. Es ist ein Staat gegen die Hamas – ich weiß nicht, wie wir die nennen können, es ist kein Staat. Da erwarte ich einfach aus Menschlichkeit heraus, oder von mir aus: aus politischem Bewusstsein, aus diplomatischen Gründen einfach zu sagen. „Ja, wir Juden, wir stehen hinter dem Staat Israel. Er hat uns aufgenommen. Das ist unser Schutzland. Aber das, was da in Gaza passiert ist, war einfach zu viel. Die Regierung hätte sich zurückhalten können.“ Irgendetwas in der Art.

Die Reaktion der Muslime, die wir gesehen haben, entstand hauptsächlich aus diesem Grund. Die Großen, die jetzt im Fernsehen aufgetreten sind, der Zentralrat der Juden oder auch Frau Knobloch, sie haben sich alle extrem für Israel ausgesprochen. Und die Krönung war, aus Sicht der Muslime – da kommen jetzt Verschwörungstheorien hoch –, die Krönung war, dass sich Bundeskanzlerin Merkel ohne ein Wort der Kritik vollkommen hinter Israel stellt und das dann auch noch verteidigt. 

Wettberg 
Darf ich mal auf die 2.000 … 

Reinbold 
Frau Wettberg, ich würde gerne die politischen Fragen, die immer wahnsinnig schwierig sind …

Wettberg 
Lassen Sie mich bitte darauf antworten, denn das kann nicht so im Raum stehen bleiben, auf gar keinen Fall.

Ein Beispiel. Stellen Sie sich vor: Wir sind Nachbarn. Ich sitze auf meinem Balkon und habe einen schönen Vorgarten. Dann sehe ich, wie mein Nachbar dort drüben auf seinem Balkon eine Raketenabschussbasis hinstellt und ganz viele Gewehre und Kanonen und alles Mögliche. Und ich sehe, wie er auch noch in seinem Vorgarten einen Tunnel gräbt und wie er sich langsam auf mein Grundstück zubewegt. Ich frage Sie: Was würden Sie machen? Würden Sie weiter Kaffee trinken und Ihre Erdbeertorte essen? Oder würden Sie sich wehren?

Stellen Sie sich bitte einmal vor – lassen Sie mich das bitte zu Ende bringen –, stellen Sie sich bitte vor: An der französisch-deutschen Grenze würden über Jahre hinweg täglich fast 80 Raketen von Frankreich auf Deutschland geworfen werden. Würden wir das so einfach hinnehmen? Wie sind die 2.000 Toten – mir tun die Palästinenser, das Volk, wahnsinnig leid! Das ist gar keine Frage, nur – wie sind die Toten denn entstanden? Ich meine: Israel muss sich irgendwann einmal wehren nach einem Dauerbeschuss mit Raketen, und die Hamas ist eine Terrororganisation. Die hält sich ein – und das sage ich jetzt hier ganz klar – die hält sich ein ganzes Volk als Kanonenfutter.

Israel hat sein Geld ausgegeben, um „Iron Dome“ zu entwickeln. Deswegen gab es ja auch so wenige Tote in Israel, weil dieses Raketenabwehrsystem funktioniert hat. Sonst hätte es genauso viele Tote auf der israelischen Seite gegeben. Und es ist so: Raketenabschussbasen wurden in Kindergärten, in Schulen, in Krankenhäusern aufgestellt. Die Israelis haben jedes Mal, wenn sie angegriffen haben, dort angerufen und gesagt: „Wir werden dieses Haus und dieses und dieses zerstören, verlassen Sie das Haus“. 

Reinbold 
Wir sind mitten in den politischen Fragen …

Sukhni 
Genau das ist das Problem. Sie geben jetzt genau das wieder, was die israelische Politik den Leuten ständig verkauft. Also dieses Gerede von den Anrufen. Das war vielleicht eine Pufferzeit von einer Minute, dass die Leute flüchten könnten. Ich höre heraus, dass Sie das legitimieren, die Zerstörung Gazas, die Infrastruktur, den Tod von 2.000 Menschen. Das legitimieren Sie jetzt. Das höre ich heraus. Sie üben keine Kritik aus. 

Reinbold 
Ich würde gern wegkommen von dem Streit um diese sehr politischen Fragen und mich auf den beginnenden Konsens beziehen, den ich gehört habe. Sie haben gesagt, Frau Wettberg, Sie kritisieren die israelische Politik an manchen Punkten. Sie haben gesagt, Herr Sukhni, es würde uns helfen, wenn Juden in Deutschland sich nicht immer bedingungslos mit Israel solidarisch erklären, sondern auch kritische Punkte ansprechen. 

Wettberg 
Ich habe nicht gesagt „bedingungslos“. 

Sukhni 
Aber Sie haben gerade genau das getan! Sie haben eins zu eins gerechtfertigt, warum 2.000 Menschen sterben mussten. Sie haben als Begründung genannt: die Hamas ist schuld. 

Wettberg
Aber jetzt sagen Sie doch einmal, warum seit Jahren Israel beschossen wird? Sagen Sie mir das doch mal!

Sukhni 
Das sage ich Ihnen gerne. Wir haben es hier mit einer Besatzung zu tun. Das haben Sie anscheinend vergessen. Die Westbank ist seit 1967 besetzt, Gaza ist blockiert, nichts kommt rein und raus. Die Leute sind doch nicht aus Spaß ... 

 

Was können wir tun gegen Antisemitismus? (1)

Wettberg 
2005 ist Israel aus Gaza rausgegangen. Was ist passiert? Die Hamas ist eine Terrororganisation, die eines im Sinn hat: Israel, dieses Land zu vernichten. 

Sukhni 
Darf ich eine Frage stellen? Hat die Irgun unter Menachem Begin keine Terroranschläge verübt vor der Staatsgründung Israels? Sie hat Terroranschläge verübt und Menschen getötet. Diese Organisation ist später eingeflossen in den Staat Israel. Menachem Begin wurde Ministerpräsident! Das heißt: für die Hamas gilt, wie für die Fatah zuvor: wenn sie Terror verübt hat, heißt das nicht, dass man nicht in Zukunft mit ihr verhandeln sollte. Aber wenn die Hamas die Macht übernimmt in Gaza und das ganze Land blockiert wird, wenn man die Menschen austrocknet und ausdurstet, da kann man nicht erwarten, dass die Hamas tatenlos da sitzt. Ich verteidige nicht die Hamas, aber Sie können auch nicht so tun, als ob da Raketen fliegen einfach nur so aus Spaß. 

Reinbold 
Frau Wettberg, auch auf jüdischer Seite gibt es ja kritische Stimmen. Sehr prominent hat sich etwa Rolf Verleger geäußert, ein ehemaliges Mitglied des Zentralrats der Juden. Er hat im Deutschlandfunk gesagt: ‚Mir sind die Äußerungen des Zentralrats zu unkritisch pro Israel. Es würde helfen, wenn man auch einmal etwas Kritisches sagt, um zu signalisieren: Antisemitismus ist das eine, und Kritik an Israel ist etwas anderes. Es gibt auch eine legitime Kritik an der Politik des Staates Israel.‘ Würde es helfen, wenn man diesen Unterschied stärker macht? Oder ist das aussichtslos? Wir sind ja eben wieder in die typische Konfrontation hineingelaufen, weg von der Frage, was man in Deutschland tun kann, hin zur harten politischen Auseinandersetzung – und das mit zwei sehr wohlwollenden, konstruktiven Gesprächspartnern, die beide das Problem sehen.

Wettberg 
Was können wir hier tun? Es leben hier, ich weiß es nicht genau, 4 bis 5 Millionen Muslime in Deutschland. Wissen Sie, wie viele Juden in Deutschland leben? Schätzen Sie mal. 

Sukhni 
Eine Million oder weniger?

Wettberg 
Eine Million? 102.000. Das ist nichts, das ist gar nichts im Grund. Ich muss schon sagen: die Arbeit, die wir hätten, können wir fast überhaupt nicht leisten. Uns persönlich, also der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, liegt sehr viel am Dialog, sonst wäre ich nicht im Rat der Religionen. Mir liegt sehr, sehr viel daran. Wir haben unglaublich viele Schulklassen in der Synagoge, und ich weigere mich auch, in Schulen zu gehen und dort zu sprechen. Dann heißt es: „Aha, das ist also eine Jüdin. Aha, sie sieht ja ganz normal aus.“ Ich möchte gern, dass die Menschen zu uns kommen. Wir sind ein offenes Haus. 

Reinbold 
Bevor Sie über Schülergruppen sprechen, lassen Sie uns die Chance nutzen, die wir haben. Wir haben einer Klasse der IGS Wunstorf die Parolen genannt, die auf den Demonstrationen gebrüllt wurden und haben sie gebeten, sie auf Plakate zu schreiben und zu sagen, wie sie das sehen. Als die Kollegen vom Evangelischen Kirchenfunk dort waren, haben sie zu ihrer Überraschung festgestellt, dass einige der Schüler bei der Demonstration in Hannover, über die ich eingangs gesprochen habe, dabei waren und mit demonstriert haben. Wir spielen jetzt einmal ein, was die Schüler zu diesen Parolen sagen. 

[Einspieler:
O-Töne:
„Ich finde das halt nicht schön, was da in Israel und Palästina vorgefallen ist.“ 
„Wie gesagt, ich habe nichts gegen die. Ich finde das halt nur Scheiße, dass die einen Staat haben und die gegen Palästina sind.“ 
„Also Juden, über Juden denke ich eigentlich positiv. Also, obwohl ich mich denen nicht nähern darf, das würde ich zwar auch nicht tun. Über größere Distanz, über Facebook oder so kann man dann ein paar Ratschläge von denen nehmen.“ 
„Ich finde das allgemein nicht schön, wenn man über Juden – ok, Juden, also die Israeli, die haben sehr viele Moslems umgebracht. Aber ich finde, da muss man jetzt nicht auch sagen: Scheiß Juden, scheiß Judentum, oder so. Das ist nicht schön. Die sind auch Menschen.“
„Juden haben es halt weit gebracht. Man sollte sich ein bisschen Vorbilder an denen nehmen, eigentlich, wenn man nicht so gut in der Schule ist.“ 
„Eigentlich habe ich nichts gegen Juden. Nur halt gegen den Staat, weil das ein ungerechter Kampf ist zwischen denen. Israelis haben Raketen, sie haben Bomben. Das einzige, was Palästinenser haben, sie können sich nur mit Steinen wehren. Sie haben keine großen Waffen, sie haben keine richtigen Chancen, so wie Israel.“ 
„Nazis sind ja ganz anders als Zionisten. Also, wenn man ‚Nazi‘ sagt, ist es eigentlich ein bisschen brutal, denke ich mal.“ 
„Stoppt den Krieg. Hört auf, die Moslems umzubringen. Was haben sie euch getan?“
Einspieler Ende.]